Ideologen waren dem Pragmatiker ein Gräuel

Hans Mathias Kepplinger
2013 Studies in Communication Sciences (SComS)  
In Erinnerung an Ulrich Saxer / Studies in Communication Sciences 13 (2014) [84][85][86][87][88][89][90][91][92][93][94] Rollen zu necken. Kraft seiner Anciennität und seines Status erlaubte er sich regelmäßig, mich platt als "Linken" mit "zutiefst bürgerlichen Untugenden" zu charakterisieren. Weder seine Vorstellung meines Umgangs mit dem anderen Geschlecht, noch meine bürgerlichen Süchte und auch nicht meine Umgangssprache erschienen ihm -gemessen an den internen Maßstäben meines politischen
more » ... erkunftskontexts -politisch korrekt. Genau das verschaffte mir Punkte bei ihm, denn Political Correctness verlängerte für ihn das öffentlich angemessene Verhalten auf lusttötende Weise ins Private. In seinem bürgerlichen Weltbild war ihm die Unterscheidung zwischen einer Vorderbühne des Lebens und verschiedenen Hinterbühnen wesentliches Moment individueller Freiheit, mehr noch: Ausdruck von Persönlichkeit. Sein Bestehen auf Vorhängen zwischen Vor-und Hinterbühnen und seine Überzeugung meiner diesbezüglichen Bürgerlichkeit prägte über die Jahre ein vertrauensvolles Verhältnis, das immer mehr von der wechselseitigen Imagination abweichenden Verhaltens hinter diesen Vorhängen lebte. Er wie ich unterschoben uns, dass die häufigen Wienreisen oder der gängige Konferenztourismus neben der Wissenschaft auch schöneren Seiten des Lebens dienten, wir ertappten uns dann und wann bei bürgerlichem Suchtverhalten und verwickelten uns dabei in erquickliche Diskussionen über das Wahre, das Gute und das Schöne. Vor allem jedoch darüber, unter welchen Umständen es zweckmäßigerweise gelte, das letzte Element dieser Dreifaltigkeit abzutrennen, um am guten Leben zumindest schnuppern zu können. Ulrich Saxer wusste viel über das Wahre -seine Leidenschaft für die Wissenschaft verschaffte ihm dies -, er verstand auch einiges über das Gute, in seinem Sinne einer primär marktwirtschaftlich geprägten sozialen Ordnung, er ließ sich aber auch in das Schöne verstricken und beschränkte dies nicht auf den Kunstgenuss. Auch wenn er diese Charakterisierung aus der Lebenswelt der Political Correctness zutiefst gehasst hätte: Er war mir wahrlich ein ganzheitlicher Lehrer. war in den siebziger und frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Matterhorn im sanften Hügelland der Schweizer Kommunikationswissenschaft: Aus der Ferne gut sichtbar und auch jenen bekannt, die ihn nicht aus der Nähe erlebt hatten. Die Schweizer Kommunikationswissenschaft hätte sich vermutlich auch ohne ihn zu einem mehrgipfligen Gebirgszug entwickelt. Aber so wie es geschehen ist, konnte es nur mit ihm geschehen. Wir sind uns zuerst 1980 begegnet, als er am Institut für Publizistik der Universität Mainz den Lehrstuhl vertreten hat, auf den ich zwei Jahre später berufen wurde. In diesem Sinne ist er mein Vorgänger. Zwar haben wir uns einige Male nur kurz gesehen, weil ich Wolfgang R. Langenbucher in München vertreten habe und nur zu Stippvisiten in Mainz war, um unsere Experimente zur Wirkung von visuellen Darstellungstechniken zu planen. Trotzdem erinnere ich mich noch gut daran, dass er schon damals die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Medien ins Zentrum seiner Studien gestellt, in beeindruckenden Schaubildern lokalisiert und systemtheoretisch analysiert hatte. Allerdings habe ich erst 1990 bei einer Gastprofessur an der Universität Zürich seine einzigartig ausgearbeiteten Unterlagen für seine Vorlesungen kennengelernt -jedes Skript ein ungedrucktes oder noch nicht gedrucktes Buch. Was die heutigen Bachelorstudenten selbstverständlich erwarten, hat er damals seinen Magisterstudenten ebenso selbstverständlich bereits geboten. Saxer war -Matterhorn hin oder her -in deutschen Landen eher ein Tiefstapler, der mit einem sorgsam gepflegten Schweizer Akzent und dem Hinweis auf seine randständige Position um Nachsicht bat, um den großdeutschen Kollegen dann humorvoll die Meinung zu sagen. Dies geschah mit einer für ihn typischen Dialektik: Erst hat er die Kollegen mit staunenden Kinderaugen, die er sich bis ins hohe Alter bewahrt hat, ausführlich und überschwänglich gelobt. Dann hat er eine Oktave tiefer angesetzt und mit heller werdender Stimme auf seine eigenen, schon längst vorliegenden Studien hingewiesen. Da war es dann doch wieder, das Matterhorn, und dafür wurde er geliebt als einer, der Recht hatte, vor allem wenn er über die Rolle der Medien in der Gesellschaft sprach, und dem man risikolos Recht geben konnte, weil er ja nur auf der Durchreise war. Mit Saxer konnte man verschiedener Meinung sein, aber nicht streiten. Er stritt sich einfach nicht, zumindest habe ich ihn nie so erlebt. Er war ein zurückhaltender und großzügiger Gastgeber. Wer das Vergnügen eines gemeinsamen Abendessens in Zürich hatte, lernte seine Vorlieben für heimische Klassiker und seine Kenntnis der passenden Weine schätzen. Und wer sogar in den Genuss einer Einladung zu einer Feier mit zahlreichen Freunden und Kollegen in seiner Heimat kam, erlebte eine Art der bürgerlichen Gastlichkeit, die man als Deutscher nur aus Romanen über eine vergangene Zeit kennt. Das hatte auf unaufdringliche Weise Stil. Das zurückhaltende Auftreten von Saxer durfte man aber nicht mit wissenschaftlicher Beliebigkeit verwechseln. In zentralen Sachfragen hat er fern von allen modischen Trends klare Positionen vertreten und daraus gelegentlich auch weitreichende Konsequenzen abgeleitet. In Kontroversen wie der hitzigen Auseinandersetzung um das Verhältnis von dargestellter Realität und medialer Realitätsdarstellung hat er einen kühlen Kopf bewahrt und realistische Vorstellungen vertreten. Über die erkenntnistheoretisch aufgeblähte Diskussion von praktischen Aspekten der Nachrichtenauswahl hat er, weil er sie für irrelevant hielt, ärgerlich den Kopf geschüttelt. Und mit Kollegen, die mit den auch von ihm geteilten Zweifeln an der Möglichkeit einer objektiven Berichterstattung im traditionellen Sinn die gelegentlich subjektiv gefärbten Nachrichten, Berichte und Reportagen von Journalisten gegen Kritik immunisieren wollten, wollte er persönlich nichts zu tun haben. Ideologen waren dem Pragmatiker ein Gräuel. Auch deshalb war es in der von den Nachwehen der Studentenrevolte geplagten Kommunikationswissenschaft Deutschlands ein Vergnügen, seine Stimme zu hören.
doi:10.1016/j.scoms.2013.04.025 fatcat:pgncmh26fbcsbni37c5kbo5e7i