Marcin Wiatr: Literarischer Reiseführer Oberschlesien. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa e.V. 2016, 424 S

Chris Rauseo
2018 Germanica Wratislaviensia  
Die Gattung des "literarischen Reiseführers" lebt von Wechselwirkungen. Da ist zuerst der Glanz oder das Prestige eines Orts, von dem man meint, er begünstige durch intellektuelle Stimulation oder landschaftlichen Reiz die künstlerische Kreativität. Zugleich strahlt der Ruhm der Dichter auf die Umgebung zurück, von der ihre Werke zehren -zumal wenn eine Art Symbiose entsteht zwischen Dichtung und Schauplatz, weil sich Handlung oder Figuren als untrennbar von einer Stadt oder einer Gegend
more » ... n. Im besten Fall wird dabei die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit praktisch aufgehoben. Dies geschieht -jeder Leser wird seine eigenen Beispiele haben -, wenn ein Autor das Kunstwunder vollbringt, Schauplätze noch intensiver und gleichsam realer zu machen, als wenn man dort gerade stünde. Idealgegenstand von literarischen Reiseführern dürfte daher ein Phänomen wie Balzacs fiktives Paris bilden, dessen Straßen und Plätze mehr "Wirklichkeit", mehr Plastizität, mehr Schwingungen der Bedeutsamkeit und mehr Resonanzraum besitzen dürften als bei der fachkundigsten Ortsbesichtigung. Ein solches Paradoxon kann man auch zu Ende führen, wie die Leser der Puppe (Lalka) des Bolesław Prus es taten, die an einem Haus in Warschau eine Tafel anbrachten mit dem Hinweis, dass dort die durchaus fiktive Hauptfigur des Romans, Stanisław Wokulski, gelebt habe. Wie sie das im Roman nicht näher identifizierte Haus "gefunden" haben, bleibt natürlich ihr Geheimnis... Freilich haben es literarische Reiseführer von Paris oder Warschau leicht -der Stoff droht niemals auszugehen. Auch manche kleineren Orte eignen sich mühelos für die Gattung: Weimar oder Zakopane etwa bieten sich für eine derartige essayistische, journalistische, touristische und auch wissenschaftlich gesicherte Darstellung geradezu an. Die ausgesprochen verdienstvolle Reihe literarischer Reiseführer des "Deutschen Kulturforums östliches Europa" hat bislang vier Bände hervorgebracht. Alle sind gelungen. Drei der Bände haben dabei einen Startvorteil. Wer wie Peter Oliver Loew Danzig (2009) bzw. wie Roswitha Schieb Breslau (2.
doi:10.19195/0435-5865.143.35 fatcat:kx4fk5ctnnaonlcoq7bkwwntde