Die Erforschung psychischer Krankheitsformen
Emil Kraepelin
1919
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie
Die Zeit liegt noch nicht lange hinter uns, in der klinisch-psychiatrische Arbeiten ffir unfruchtbar und aussichtslos galt.en und daher bei den Fachgenossen gi~nzlich zurficktraten hinter der Besch~ftigung mit neurologischen, allenf~lls auch anatomischen Untersuchungen. DaB der Grund ffir diese Vernaehli~ssigung der klinischen Psychiatrie nicht etwa in der restlosen Vollendung unseres wissensehaftlichen Lehr-geb~udes, sondern lediglieh in der Schwierigkeit des Gegenstandes lag, bedarf heute
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... er besonderen Darlegung. Hat sich doch gezeigt, dab die letzten zwei Jahrzehnte nicht nur tiefgreifende Umw~lzungen unserer klinischen Grundanschauungen, sondern damit auch eine Menge neuer Fragestellungen mit sich gebracht haben, die der wissenschaftlichen Ti~tigkeit auf unserem Gebiete eine Ffille von ArbeitsmSglichkeiten erSffnen. Durchaus im Vordergrunde unserer Aufgaben steht vorl~ufig die Umgrenzung und Gruppierung der Krankheitsformen. Sie bildet die Grundlage aller weiteren Forschung. Alle Bemfihungen, irgendwelche psychiatrischen Fragen ohne Rficksicht auf die verschiedenen Krankheitsformen in Angriff zu nehmen, mfissen notwendig sehr bald an dem Umstande scheitern, da[t Wesen und Verhalten der einzelnen Krankheitsvorg~nge untereinander gar nicht vergleichbar sind. Es gibt eben nicht, wie man frfiher vielfach annahm, e i n e Geisteskrankheir, fiber die sich allgemeine Aussagen machen lie{~en, sondern eine Unzahl ganz verschiedener krankhafter StSrungen der Hirnt~tigkeit, als deren Ausdruck mannigfaltige klinische Biider zur Entwicklung kommen. Darum ist es nicht m5glich, fiber die Ursachen und Entstehungsbedingungen des Irreseins, fiber seine seelischen und k5rperlichen Erscheinungen, fiber Verlauf und Ausg~nge, fiber seine Erkennung und Behandlung oder fiber die ihm zugrunde liegenden Hirnver~nderungen irgendwelche tiefer dringenden Forschungen anzustellen, wenn dabei nicht sorgfi~ltig die Krankheitsvorgi~nge auseinandergehalten werden, auf die sich jeweils unsere Beobachtungen beziehen. E. Kraepelia: Die Erforschung psychischer l~.rankae~tstormen. ZZO Es hat lange gedauert, bis es gelungen ist, hinter der verwirrend~n Vielgestaltigkeit der klinischen Erscheinungen die Spuren natfirlicher Krankheitsvorg~tnge aufzudecken. Wit dtirfen jedoch annehmen, daf heute diese Aufgabe auf weiten Gebieten unserer Wissenschaft ann/ihernd gel6st ist. Ebenso sicher aber ist es, dab es noch eine lange l~eihe eigenartiger Krankheitsvorg~nge gibt, die uns bisher unbekannt geblieben sind. Jedem Erfahrenen begegnen nur allzu h~ufig F~lle, die sieh durchaus nicht in unser schulm~figes Lehrgeb~ude einordnen lassen, und wenn dabei auch oft genug Unvollkommenheiten der Beobachtung oder Einseitigkeiten unserer Kr~nkheitsbegriffe mitspielen mtigen, so bestehen doch sehwerwiegende Grfinde ffir die Vermutung, dafes noch recht viele Lficken in der Liste unserer Krankheitsformen auszuffillen gibt. Tatsi~chlich hat auch die Erfahrung eine Anzahl neuer, gut gekennzeichneter kllnischer Krankheitseinheiten aufgedeckt. Das erste Ziel unserer wissenschaftlichen Bestrebungen muf es d~her sein, einerseits ~/ts den Beobachtungen, wie sie uns das Leben liefert, allm~hlich eine mSglichst vollst~ndige l~bersicht fiber die Gesamtheit der natfirlichen Krankheitsvorg~nge zu gewinnen, andererseits aber die klinischen Eigentiimlichkeiten der uns sehon bekannten Kr~nkheitsformen in allen Einzelheiten zu erforschen. Die Bestrebungen in ersterer Richtung werden, wie sie es yon jeher getan haben, zunSchst von den klinischen Erscheinungsformen ~uszugehen haben. Man wird den Versuch machen, F~lle, die mSglichst gleichartige StSrungen aufweisen, zu einer Einheit zusammenzufassen.
doi:10.1007/bf02899798
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