Ein atypischer Fall von Thomsen'scher Krankheit1)

1899 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
Der l9jährige A. H. ist von gesunden, noch lebenden, nicht blutsverwaiidten Eltern geboren. Acht Geschwister sind ebenfalls gesund (ein Kind starb früh); jedenfalls klagt kein Mitglied der Familie über Beschwerden, welche denen meines Patienten irgendwie ähnlich wären. Von Kindheit an war A. H. an den Händen schwach: er lernte schlecht schreiben, konnte beim Turnen keine Klimmzüge machen, verlor feinere Gegenstände aus Händen und Fingern leicht. Alles das war besonders ausgeprägt, wenn Patient
more » ... ich längere Zeit in der Kälte aufgehalten hatte. Befragt, ob die Kälte auch auf andere Bewegungen als die der Hände und Finger hemmend einwirke, erzählt er, dass er nach längerer Fahrt auf offenem Wagen im Winter so steif werde, dass er nur mit Mühe vom Fuhrwerk steigen und innerhalb der ersten Minuten dem sehr langsam weiter fahrenden Gefährt nur steif, unbehilflich und mit grosser Anstrengung folge. Fällt er in Folge eines Hindernisses zu Boden, so wird oft wegen bald eintretender Steifheit das Aufstehen schwierig. Wenn Sie den jungen, gut entwickelten Mann hier im warmen Zimmer umhergehen, sich ohne Mühe hinsetzen und wieder aufstehen, mit Leichtigkeit die oberen Extremitäten im Schulter-und Ellenbogengelenk, die unteren Extremitäten in allen Gelenken beugen und strecken sehen, werden Sie kaum eine Spur von jener TJnbehilflichkeit und Steifheit bemerken, über welche er als in der Kälte (nach längerer Ruhe) auftretend klagt. Er geht Stunden lang, ohne zu ermüden, legt sich ohne Mühe glatt zur Erde, erhebt sich ohne Steifigkeit, ohne an sich hinaufzuklettern" etc., so dass zur Zeit scheinbar nichts Auffallendes an ihm zu beobachten ist. ist Patient vollkommen entkleidet, so fällt zunächst die gute Entwickelung seiner Hals-, Schulter-und Rumpfmuskulatur auf, an welcher auch die oberen Extremitäten mit einer sogleich zu erwiihnenden Ausnahme, und ganz besonders die Muskeln der Glutäen, der Oberschenkel und der Waden theilnehmen (Umfang der Oberarme in der Mitte 271 2 cm, der Oberschenkel 20 cm oberhalb des oberen Patellarrandes 47 cm, grösster Wadenumfang 37 cm). Das Gesicht zeigt etwas Starres, das Mienenspiel ist wenig entwickelt; der Hals hat bei guter Ausbildung der Musculi sternocleidomastoidei durch eine inässige Vergrösserung der Schilddrüse einen vermehrten Umfang. -Der untere Theil der Brust-und der obere der Lendenwirbelsäule erscheint brdotisch. -Von der im allgemeinen guten Entwickelung der Muskulatur des Körpers sticht die der Vorderarme, und namentlich die der ) Vortrag und Krankenvorstellung im Verein für innere Medicin in Berlin am 6. Februar 1899. Mittheilnngen äber Congresse. Kleine Mittheilungen. Hände ab. Die Streck-und Beugemuskein an den Vorderarmen erscheinen zwar nicht atrophisch, doch fühlen sie sich weicher rnan, als z. B. die Muskeln an der Schulter, den Oberarmen und namentlich an den unteren Extremitäten ; thatsächlich schlaff und dünn erscheinen die Musculi interossei, die Muskeln des Kleinfingerballens, weniger die des Thenar. -Die Bewegungen des Kopfes, der Schultern, der oberen Extremitäten in den Schulter-und Ellenbogengelenken, sowie die der unteren Extremitäten in allen Gelenken kommen frei, leicht und kräftig zu Stande. Vor allen Dingen besteht namentlich an den Beinen nichts, was entfernt an die Hemmung oder die Steifigkeit erinnerte, wie man sie etwa in den klassischen Fällen der sogenannten Thomsen'schen Krankheit antrifft. Davon machen indessen folgende Muskeln und Muskelgruppen eine Ausnahme : Befiehlt man dem Kranken, die Augen fert zu schliessen und alsbald wieder zu öffnen, so geschieht letzteres offenbar mit Mühe ; es verfliesst im Gegensatz zu anderen Bewegungen eine gewisse Zeit, ehe sich die Contraction der Musculi orbiculares palpebrarum löst und die Augen geöffnet werden. Andere Bewegungen der Gesichtsmuskulatur, Stirnrunzeln, Naserümpfen, Verziehen des Mundes, Pfeifen etc. zeigen diese Andaner der einmal bewirkten Contraction nicht, sondern können prompt in Scene gesetzt und geändert werden. -Giebt man dem Kranken die Hand und fordert ihn auf, dieselbe zu drücken, so ist man überrascht von der überaus geringen Kraft, mit der dies geschieht. -Ebenso vermag der Kranke kleinere, mit Daumen und Zeigefinger gefasste Gegenstände (Federhalter, Bleistift) so wenig festzuhalten, dass eine geringe Kraftanwendung geniigt, sie ihm zu entziehen. -Die Opposition des Daumens zum kleinen Finger kommt nur unvollkommen zu Stande, das Spreizen und Wiederannähern der Finger desgleichen, namentlich bleibt links der fünfte vom vierten Finger entfbrnt, ohne diesem genähert werden zu können. Streckt man passiv die basalen Phalangen der Finger, so erfolgen Beugung und Streckung der Mittel-und Nagelphalangen nur schwach and unvollkommen. Bei dem vom Kranken ausgeführten Händedruck bemerkt man aber, wie trotz der Schwäche desselben die einmal gebeugten Finger nur langsam und allmählich dem Befehle, loszulasseii und Hand und Finger wieder zu strecken, folgen. Hier und am Schliessmuskel des Auges kommt die myotonische Bewegungsstörung eigentlich allein zum deutlichen Ausdruck; bei den Bewegungen der unteren Extremitäten fehlt sie ganz, bei Bewegungen -in der Schulter und bei denen der Oberarmmuskulatur ist sie höchstens angedeutet. Die Bewegungen der Augen (Pupillen sind eher weit, gleich gut reagirend auf Licht und Accommodation) und der Zunge sind normal, frei und leicht ausführbar; Stimme, Sprache, Schlucken stets frei, nur beim Kauen, giebt Patient an, habe er manches Mal, namentlich in der Kälte, die Hand unter das Kinn legen und dieses nach oben drücken müssen, da er sonst den Mund nicht hätte schliessen können.---Die Bauch-und Patellarsehnenreflexe sind in normaler Weise vorhanden, die Cremasterreflexe nicht deutlich auszulösen. Die Function der Blase Mit Berücksichtigung des deutschen Medicinaiwesens nach amtlichen Mittheilungen, der öffentlichen Gesundheitspflege und der Interessen des ärztlichen Standes.
doi:10.1055/s-0029-1200190 fatcat:7pt45xt6qzewvil7shl5krrdxu