Das Desiderat der "angewandten oder empirischen Metaphysik" – von der ANT zu Netzwerken sich selbst konditionierender Reflexionen?
Till Jansen, Werner Vogd
2014
Soziale Welt
Zusammenfassung: Bruno Latour fordert zu recht für die Soziologie eine "empirische" bzw. "angewandte Metaphysik", um das Verhältnis von philosophischer bzw. metatheoretischer Begründung und sozialer Praxis vom Kopf auf die Füße stellen zu können. Allerdings fehlt ihm eine metatheoretische Konzeption, mittels der sich die Reflexionsverhältnisse einer empirischen Metaphysik konzeptionalisieren und rekonstruieren lassen. Im vorliegenden Artikel wird im Rekurs auf Gotthard Günthers Reflexionslogik
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... ine Perspektive aufgezeigt, unter der sich das Latoursche Desiderat aufgreifen lässt. Auf diese Weise eröffnet sich der Weg zu einer empirischen Forschung, die weder in Hinblick auf gesellschafts-und differenzierungstheoretische Implikationen blind ist, noch essentialisierend die eigene Begriffsbildung mit der Logik der Praxis verwechselt. Einleitung Soziologische Theorie und qualitative empirische Forschung finden nicht leicht zueinander, wobei die Problemlagen unterschiedlich sind, abhängig davon, ob man sich von der Theorie kommend der Empirie nähert oder umgekehrt. 1 Die Bewegung von der Theorie zur Empirie neigt dazu, sich in den von ihr selbst geschaffenen Begrifflichkeiten und Konzepten zu verfangen und diese mit der Realität zu verwechseln. Konzepte und Ausgangspunkte, die aus forschungspraktischer Sicht zunächst nützlich erscheinen, werden etwa essentialisiert, indem der Kontext vergessen wird, dem sich die Ausgangsunterscheidungen und die hieraus abgeleiteten theoretischen Begriffe verdanken. 2 Empirische Daten und Protokolle werden dann nur noch subsumptionslogisch dem Baukastensystem des übergreifenden theoretischen Rahmens untergeordnet (etwa Jackson / Mazzei 2012; vgl. auch Keller 2014). Die Theorie übersieht, wenn man so möchte, die Empirie. Die empirische Forschung hingegen neigt dazu, ihre eigene Metatheorie zu übersehen (Nassehi / Saake 2002). Während im Extremfall gar keine Metatheorie formuliert wird und die Ergebnisse der Forschung als reine grounded theory erscheinen (Glaser / Strauss 1999), tendieren die meisten Verfahren dazu, den Einfluss der eigenen Metatheorie auf die Ergebnisse zu vernachlässigen. Beispielsweise betreibt man in Folge eines essentialistischen Selbstmissverständnisses Biografieforschung, ohne ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass nicht jeder Mensch in jeder Situation eine Biografie im Sinne des westlichen Individualismus braucht und hervorbringt (Knorr-Cetina 1989: 93). In gleichem Sinne ontologisiert man Konzepte wie 'Handlung' und 'Subjekt', wobei man den Umstand übergeht, dass diese Konzepte selbst erst in sozial und kulturell formatierten Zurechnungsprozessen entstehen. Oder man verwendet Kategorien gesellschaftlicher und funktionaler Differenzierung und 1.
doi:10.5771/0038-6073-2014-4-451
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