Geschichten sehen und fühlen Visualität und Stimmung als transmediale Kategorien narrativer Analyse
Jean-Pierre Palmier
unpublished
Die interdisziplinäre Verwendung fachspezifischer Be-griffe wird meist durch ihren heuristischen Nutzen ge-rechtfertigt. Wer von auktorialer, personaler und Ich-Erzählperspektive spricht, um die Erzählhaltung eines Films zu untersuchen, hat dessen Perspektivenstruk-tur mitunter erschöpfend erfasst; zweifellos gibt es aber filmische Erzählverfahren, die sich mithilfe der li-teraturwissenschaftlichen Erzähltheorie nur annähernd erklären lassen. Die Erzähltheorie steht beispielhaft für die
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... ichkeiten und Probleme einer 'Migration' analytischer Konzepte. Sie erlaubt einerseits die Erzählanalyse in verschiedenen Medien und berücksichtigt die mediale Vielfältigkeit des Erzählens. Andererseits verwischt ihre fachfremde Anwendung aber die Differenzen, die hinsichtlich der narrativen Qualität der Medien beste-hen, denn nicht alle Medien, die Geschichten darstel-len, sind narrativ. 1 Eine transmediale Erzähltheorie muss zunächst an narrativen Medien wie der erzählenden Literatur, dem Spielfilm oder dem Comic herausgearbeitet werden, bevor mit ihrer Hilfe auch die Geschichtendarstellung in nicht-narrativen Medien wie dem Bild, dem Theater oder der Musik untersucht werden kann. Im Zuge dessen können neue erzählanalytische Konzepte, zum Beispiel Visualität und Stimmung, eingeführt werden, was im ersten Teil dieses Beitrags geschehen soll, während etablierte Konzepte der literaturwissen-schaftlichen Erzählanalyse, etwa das des Erzählers, hinterfragt werden müssen, wie im zweiten Teil des Beitrags gezeigt wird. Denn für erzählende Medien wie den Spielfilm oder den Comic ist die Annahme ei-ner übergeordneten Erzählerfigur irreführend, wäh-rend Visualität ebenso konstitutiv für jedes Erzählen ist wie Geschichten auch immer eine Stimmung aus-zeichnet. Visualität wird in verschiedenen Erzählmedien auf ver-schiedene Weise erzeugt und ist deswegen transme-dial: Geschichten haben visuelle Qualität, die im Er-zählen je medienspezifisch ausgeprägt wird. Gleiches gilt für die Stimmung einer Geschichte: Im Film wird Stimmung etwa leicht durch den Einsatz von Musik erzeugt; in der erzählenden Literatur ist Stimmungsbil-dung umständlicher: Beispielsweise ist die unheimli-che Stimmung in Kafkas Texten auf die eigenartige Bedrohlichkeit der erzählten Welt zurückzuführen. Ihre Unheimlichkeit wird durch die Darstellung von be-stimmten Figuren, Orten und Ereignissen, aber auch durch die Art des Erzählens hervorgerufen. Visualität und Stimmung sind nicht nur medienüber-greifende Eigenschaften von Geschichten, sondern charakterisieren insbesondere auch ihre Rezeption. Der Film oder der Comic wirken unmittelbar als visuel-ler Reiz auf den Zuschauer oder Leser ein; der Text entfaltet sein visuelles Potential in der Vorstellungs-kraft des Lesers: Zwar sind auch die Buchstaben vi-suelle Reize, doch die visuelle Wirkung des Textes stellt sich nicht unmittelbar, sondern erst im Zuge der kognitiven Sprachverarbeitung ein. Leseerlebnisse sind damit in visueller Hinsicht individuell verschieden, aber sie sind nicht kontingent, weil die Visualisie-rungsprozesse durch literarische Mittel gesteuert wer-den. Visualität von Geschichten Etwa achtzig Prozent des Gehirns dienen der Auswer-tung visueller Informationen. 2 Die für Visualität rele-vanten Hirnareale werden nicht nur dann aktiv, wenn über das Auge wahrgenommene Reize als neuronale Muster in verschiedenen Regionen der Sehrinde kon-struiert werden, sondern auch bei Erinnerungen, Träu-men und anderen mentalen Simulationen. Für die transmediale Bestimmung von Visualität als Kategorie der Erzählanalyse ist entscheidend, dass die Objekte von Wahrnehmungs-und Erinnerungsvorstellungen in denselben Bereichen des Gehirns abgebildet wer-den 3 , so dass sich Lesen und Filmschauen hinsicht-lich der ablaufenden neuronalen Prozesse nicht
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