Editorial

2009 Zeitschrift für Parlamentsfragen  
Die größte Spannung im diesjährigen Bundestagswahlkampf geht von der Frage aus, welche Optionen für die Bildung einer handlungsfähigen Regierung den Parteien nach der Entschei dung der Wähler zur Verfügung stehen werden: Wird es für ein schwarz-gelbes Bündnis reichen? Werden nur Drei-Parteien-Konstellationen über die notwendige rechnerische Mehr heit im Bundestag verfügen? Welche davon wäre auch politisch möglich? Oder kommt es zur Fortsetzung der ungeliebten -aber vielleicht doch von einigen
more » ... sgeheim präferierten -Großen Koalition? Es könnte sein, dass eine Besonderheit des deutschen Wahlsystems am 27. September den Ausschlag gibt. Joachim Behnke zeigt mit Hilfe von Simulationen, dass die von Wählerum fragen derzeit geschätzten Ergebnisse die Entstehung von Überhangmandaten zugunsten der CDU in einem bisher nicht gekannten Ausmaß begünstigen werden. Werden jedoch die Wähler der Partei Die Linke erheblich häufi ger als bisher ihre Erststimme dem Wahlkreiskan didaten der SPD geben, könnten die Sozialdemokraten "trotz -und absurderweise gerade wegen -ihrer immensen Verluste an Zweitstimmen die Partei sein, die am meisten von den Überhangmandaten profi tiert". Die große Bedeutung, die so den -mit der Wiedervereinigung sprunghaft angestiegenen -Überhangmandaten zukommen kann, wäre 2009 mit einer besonderen Hypothek belastet: Das Bundesverfassungsgericht hatte 2008 den Gesetzgeber beauftragt bis 2011 das Wahlrecht zu ändern, und zwar gerade wegen der Möglichkeit, dass durch Überhangmandate ein "negatives Stimmgewicht" bewirkt werden kann. Schon seit mehreren Jahren wird in der ZParl über eine Wahlrechtsreform, die Vor-und Nachteile von Wahlsystemen, ihre Folgen und Durchsetzungschancen diskutiert. Hier bringt Eric Linharts Beitrag weitere Klarheit. Auf der Basis von Simulationen weist er nach, dass sowohl die reine Verhältniswahl als auch ein Grabenwahlsystem -die beide das Problem des negativen Stimmgewichts behöben -die funktionellen Ziele für Wahlsysteme, insbesondere Repräsentation und Konzentration, besser austarieren als die gegenwärtige Regelung. Die für Parteien wie Kandidaten höchst bedeutsame Frage, wann ein Listenplatz sicher ist, beantworten Philip Manow und Martina Nistor. Für alle Bundestagswahlen seit 1953 haben sie für jeden Rangplatz auf den Parteilandeslisten die Wahrscheinlichkeit berechnet, darüber in den Bundestag gewählt zu werden. Der Anteil sicherer Kandidaturen ist bei CDU/CSU und SPD von 40 auf 30 beziehungsweise von 65 auf 54 Prozent gesunken (je nach Defi nition von "sicheren Wahlkreisen"). Reine Wahlkreis-und reine Listenkandidaturen sind zur Ausnahme geworden (außer bei der CSU), womit empirisch weiter erhärtet wird, dass es zu keinen Rollendiff erenzierungen kommt zwischen Abgeord neten mit Direktmandat und solchen, die über die Liste in den Bundestag gelangt sind. Die Strategien, mit denen die Parteien den gerade zu Ende gehenden Bundestagswahlkampf bestritten haben, können noch nicht abschließend bewertet werden. Volker Best analysiert die Kampagne der CDU/CSU 2005. Seine Erkenntnisse zu den Motiven, der Ausgestaltung und den Problemen ihrer "Strategie der kommunizierten Ehrlichkeit" lassen diese als Misserfolg erscheinen. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, "dass ein Verzicht auf unrealistische Versprechen sich nicht auszahlen kann", wohl aber, dass es riskant ist, Ehrlichkeit zum Leit thema des Wahlkampfes auszurufen.
doi:10.5771/0340-1758-2009-3-493 fatcat:px4zsnr3avagthas5a33thvwiu