Zu Ende erzählen: Leben und Sterben im Text
Franziska Gygax
2021
Hermeneutische Blätter
Fast wie Scheherazade, die durch ihr Erzählen den Tod abwenden konnte, nden wir in zahlreichen sogenannten Autothanatogra en 1 todkranke ErzählerInnen, die dem Tod entgegen schreiben und auf diese narrative Weise ihrem Lebensende Kontinuität verleihen. Obwohl ihr Narrativ mit ihrem Tod enden wird, sind diese Geschichten einerseits durch ihren Fokus auf das (gelebte) Leben charakterisiert, und andererseits leben sie durch unsere Lektüre und Rezeption weiter. Obwohl der Tod den AutorInnen, deren
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... exte ich besprechen werde, gewiss und auch omnipräsent ist, stellt er keine Instanz dar, die eindeutig im Text eingeschrieben ist. Michel de Certeau, der sich vor allem mit der Theorie der Alltagspraxis befasste, zu der letztlich auch das Sterben und der Tod gehören, hält fest, »dass der Tod nicht benennbar ist. Aber er schreibt sich in den Diskurs des Lebens ein, ohne dass es möglich wäre, ihm einen bestimmten Platz zuzuweisen.« 2 Für de Certeau ist der Tod nicht beschreibbar, jedoch weist er ihm eine Präsenz zu, die unabdingbar mit dem Leben verbunden ist. Das Kapitel, in dem er diese Aussagen festhält, ist überschrieben mit Sterben: Das Unsagbare (335). Für de Certeau sind also das Sterben wie der Tod unsagbar, und er weist auf die Tabuisierung des Todes in unserer Gesellschaft hin: »[E]r [der Sterbende] wird zensiert, der Sprache beraubt und mit dem Leichentuch des Schweigens zugedeckt: das Unsagbare.« (336) Er, der Philosoph aber, der über den Sterbenden schreibt, macht sich ein Bild von ihm und erscha t so durch Sprache, was eigentlich nicht benennbar ist: »Warum soll man nicht im Namen eines unmöglichen Sprechens schreiben?« (342) Diese Feststellung führt de Certeau zum Schriftsteller, der für ihn eine Art Sterbender ist, der zu sprechen versucht, um »mit dem Wortschatz des Vergänglichen Sätze zu produzieren« (346), die von LeserInnen rezipiert werden. Der/die Schreibende sieht sich immer mit dem Verlust konfrontiert, der sich aus der Inkongruenz zwischen Zeichen und Bedeutung ergibt. Der Text wird vom »Anderen« (der Leserschaft) aufgenommen, dessen Antwort 1 Ich übernehme diesen Begri aus der anglophonen Autobiogra eforschung, wo er schon länger verwendet wird.
doi:10.51686/hbl.2016.2.3
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