Argumentativ überwunden, aber nicht überzeugt? : zur Wirksamkeit der sokratischen Elenktik in Platons Gorgias
Bernhard Kaiser
2017
Graeco-Latina Brunensia
The Gorgias is frequently read as a dialogue in which Socrates fails to convince especially his last interlocutor Callicles to adopt a philosophical way of life. Instead, Callicles becomes increasingly indignant about the repeated refutation of his personal convictions and eventually refuses to participate in the conversation any longer. In general scholars explain this result by Callicles' recalcitrance. It is supposed that the dialogue illustrates the impossibility of persuasion if an
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... utor refuses to cooperate -which would imply certain limitations of the Socratic elenchus. In contrast, this paper demonstrates that Socrates indeed achieves his aim of shaking Callicles' faith. By decoding the medicine and court imagery, ubiquitous throughout the whole dialogue, it will be argued that, far from being an illustration of failure, the text instead indicates that Socrates' conversation with Callicles is successful -and thus proves the efficacy of the elenctic method even on reluctant opponents. Argumentativ überwunden, aber nicht überzeugt? ČLÁNKY / ARTICLES Es gibt nicht viele Texte, die dem Verstehen so viele Rätsel aufgeben wie die Platonischen Dialoge. Wenn man sich die unterschiedlichen Interpretationen vor Augen hält, die nebeneinander geboten werden, dann kann man es zuweilen kaum glauben, dass vom selben Text noch die Rede sei. Der Gorgias bildet hinsichtlich der Vielstimmigkeit seiner Interpreten beileibe keine Ausnahme. Mein Interesse zielt jedoch auf einen Punkt, über den weitgehend Einigkeit zu bestehen scheint. Im Allgemeinen gilt als ausgemacht, dass es im Dialog dem Protagonisten Sokrates in vielen Anläufen nicht gelingt, seinen Gesprächspartner Kallikles von der philosophischen Lebensführung zu überzeugen. Bevor ich mich jedoch näher mit der Frage beschäftige, wie viel Sokrates zu überzeugen vermag, sei die Handlung des Dialogs noch einmal kurz rekapituliert: Der Gorgias enthält inhaltlich aufeinander aufbauende Gespräche zwischen Sokrates und den drei Gesprächspartnern Gorgias aus Leontinoi, der Lichtgestalt der Rhetorik schlechthin, Polos, einem seiner Schüler und Kallikles, einem politisch ambitionierten jungen Athener, wobei die Diskussion zunehmend an Schärfe gewinnt. Thema der Gespräche ist eigentlich und zunächst die Rhetorik, die unter den gezielten Fragen des Sokrates recht schnell in ein moralisch bedenkliches Licht gerät, jedem Zweck dienstbar zu sein. In der Folge werden dann allgemeinere ethische Fragestellungen aufgeworfen, etwa ob es sich empfiehlt, Unrecht zu begehen oder sich der legitimen Strafe zu entziehen, bis schließlich in eine Erörterung der alles übergreifenden Frage eingetreten wird, wie man leben soll. Besondere Bekanntheit hat darin die feurige Rede des Kallikles erlangt, in welcher er das natürliche Recht des Stärkeren propagiert, seine Begierden schrankenlos auszuleben. Neben Gorgias, der als Titelfigur erstaunlich blass bleibt, und Polos, der vor allem durch jugendlichen Übereifer auffällt, entpuppt sich Kallikles als die eigentliche Herausforderung für Sokrates. Nicht von ungefähr nimmt das Gespräch mit ihm mehr Raum ein als die Gespräche mit Gorgias und Polos zusammengenommen. Die besondere Bedeutung, die Kallikles innerhalb des Dialogs innehat, ist auch daran abzulesen, dass der Dialog mit den Worten des Kallikles eröffnet wird und mit der Anrede seines Namens endet. Anfang und Ende, die exponiertesten Partien eines jeden Textes, wurden so für Kallikles reserviert. Der Disput, den Kallikles und Sokrates im dritten und finalen Akt des Dialogs führen, verläuft zunächst ganz so, wie zu erwarten: Kallikles ist Sokrates argumentativ hoffnungslos unterlegen, er gerät trotz vielerlei Ausflüchte zunehmend in Bedrängnis, auch weil er sich zu immer waghalsigeren Behauptungen versteigt. 1 Irgendwann ist der Verdruss so groß, dass er für eine gewisse Zeit sogar ganz aus dem Gespräch aussteigt und Sokrates das Feld allein überlässt. Im weiteren Verlauf zeigt er an der Sokratischen Argumentation allenfalls noch mäßiges Interesse. Kallikles ist in der Sache geschlagen, daran besteht nach der Darstellung kein Zweifel, aber er hinterlässt zugleich den Eindruck, als ob ihn das nicht sonderlich tangieren würde. Als ihm Sokrates kurz vor Ende des Zwiegesprächs eine letzte Begründung anbietet, warum er selbst um den Preis des Todes stets 1 Klosko (1984) vermutet, Platon habe unfairerweise dafür gesorgt, dass Sokrates Kallikles leicht widerlegen konnte, indem er diesen seine ursprüngliche Position ohne Not zugunsten einer nicht zu verteidigenden Behauptung preisgeben lässt.
doi:10.5817/glb2017-2-13
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