Musikermedizin: Orchideenfach oder Notwendigkeit?

Martina Berchtold-Neumann
2018 Schweizerische Ärztezeitung  
Im Laufe der Berufsjahre, oft auch bereits während der Ausbildung, entwickeln zahlreiche Musiker/in nen charakteristische somatische und psychische Be schwerden, die zumindest mitbedingt sind durch das professionelle Instrumentalspiel oder Singen. An der Spitze der Beschwerden bei Musiker(inne)n stehen Schmerz syndrome. Es macht keine Mühe, sich etwa eine Violinistin vorzustellen, die stundenlang den lin ken Unterarm verdrehen und mit dem rechten Arm den Bogen bewegen muss, um ihrem Beruf als
more » ... sik lehrerin oder Orchesterspielerin nachgehen zu kön nen. Aber auch bei Bläsern ist die gesundheitliche Belastung enorm durch mühselige Haltungen oder die intensive Beanspruchung von Lippen und Zähnen. Die schmerzhaften Probleme des Bewegungsappa rates sind überwiegend Folgen einer dauerhaften, exzessiven Arbeit mit einem unergonomischen «Handwerkszeug», da bauliche und spieltechni sche Eigenschaften der Instrumente im allgemeinen nicht unseren natürlichen physischen Anlagen ent sprechen. Sie erfordern oft einseitige Körperhaltungen in physiologischen Grenz bereichen. Ausserdem steht die Entwicklung von Beschwerden in Bezug zur jewei ligen körperlichen und psychischen Disposition der Musiker/innen, zum konkreten beruflichen und pri vaten Umfeld sowie zum Repertoire, den ÜbeGe wohnheiten und der persönlichen Instrumentaltech nik. Auch aus sermusikalisch zugezogene Verletzungen und Erkrankungen können für eine/n professionelle Musiker/in leicht zum gravierenden Hindernis bei der Berufs ausübung werden. Durch die immer grösser werdende Lautstärke der musikalischen Darbietungen sind schliesslich alle Krankheitsbilder rund um das Ohr von grosser Bedeutung. Relativ häufig sind Probleme aus dem psychischen For menkreis, insbesondere rund um den Stress. Hierbei spielen Auftrittsängste eine besonders grosse Rolle. Auch lässt sich leicht vorstellen, was es heisst, abends pünktlich um 19.30 Uhr mehrmals in der Woche in der Züricher Tonhalle seine Höchstleistung abzurufen. Die oft perfektionistische Erwartungshaltung von Künst ler(inne)n, das hörverwöhnte Publikum und der leis tungsorientierte Musikbetrieb verzeihen keine Fehler. So wachsen werdende Berufsmusiker/innen bereits mit der Kultur der Perfektion auf und sind auch inner psychisch nur schwer in der Lage, sich selber einen Fehler zu verzeihen. Das und mehr sind die Grund lagen des beschwerlichen Lampenfiebers mit allen, auch physiologisch mühsamen, Auswirkungen. Un regel mäs sige Arbeitszeiten, hierarchische Strukturen in Orchestern, Konkurrenzdruck, oft auch finanzielle Probleme führen bei entsprechender Disposition und nicht aus reichenden individuellen Ressourcen nicht selten zu einer burnout Problematik. Musikererkrankungen sind also durch viele indivi duell unterschiedliche Faktoren geprägt und gehen mit äusserst facettenreichen Beschwerdebildern ein Mit Musik wird gemeinhin das Schöne und Wahre assoziiert. Musik dient der Kontemplation, der Erholung und bereitet Freude beim passiven Hören und beim aktiven Musizieren. Musik und Stress, Musik und Schmerz: diese Zusammenhänge sind oft erst auf den zweiten Blick erkennbar und waren, sind bisweilen noch, Tabuthema -und zwar bei allen Beteiligten. Die Musikermedizin ist ein recht junges Fach. Erst seit etwa den 1980er-Jahren wird die Thematik aus arbeitsmedizinischer Perspektive betrachtet. Was ist das Besondere an diesem Beruf und warum ist es wichtig, sich spezifisch um die Musizierenden zu kümmern? Dieser Artikel soll diese Fragen beantworten und aufzeigen, wie die momentanen Bemühungen zu diesem Thema in der Schweiz umgesetzt werden.
doi:10.4414/saez.2018.17184 fatcat:rq2tsymmpncwji3j2wieqkuwbm