Kants "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" : gestern und heute
HOLGER LYRE
2006
Deutsche Zeitschrift für Philosophie
Am 8. Juni 1795 schreibt Johann Gottfried Karl Christian Kiesewetter in einem Brief an Kant die folgenden Zeilen: "Es ist mir eine sehr auffallende Erscheinung daß so sehr man Ihre übrigen Schriften genützt, erklärt, ausgezogen, erläutert u.s.w. hat, sich doch nur sehr wenige bis jetzt erst mit den metaph. Anfangsgründen der Naturwissenschaft beschäftigt haben. Ob man den unendlichen Werth dieses Buchs nicht einsieht, oder ob man es zu schwierig findet, weiß ich nicht. [...] [M]ir hat es unter
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... llen Ihren Schriften die meiste Mühe gemacht [...]." 1 Die Einschätzung, dass sich nur wenige bislang mit den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft 2 eingehend beschäftigt haben, ist auch heute, nach über 200 Jahren intensiver Kant-Forschung, also angesichts der überaus eingehenden Beschäftigung mit Kants Gesamtwerk, durchaus zutreffend. 3 Im Riesenwerk Kants -und hier sei einmal nur die theoretische Philosophie betrachtet -wird, wie es scheint, die Aufmerksamkeit der übergroßen Mehrheit der Rezipienten so vollständig auf die erkenntnistheoretischen Anteile gelenkt, dass die übergeordnete naturphilosophische Perspektive sehr häufig gar nicht recht in den Blick genommen oder gar verdrängt wird. Im vorliegenden Aufsatz soll der Versuch unternommen werden, dieser übergeordneten naturphilosophischen Perspektive Kants wieder mehr Raum zu verschaffen. Kants Philosophie hat, so die hier zu vertretende These, ihre Wurzeln in einem naturwissenschaftlich-metaphysischen Vereinheitlichungsprojekt, das sich bereits in seinen frühen Schriften zeigt und das insbesondere nach seinen Problemen mit der Raumauffassung (der Essay 1768 über inkongruente Gegenstücke) zu einer neuen Lösung drängte. Worin diese Lösung besteht, ist hinlänglich bekannt: eine umfassende Revision der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik, angefangen durch eine kritische Theorie des Raumes (bereits in der Dissertatio von 1770) und der durch die systematische Behandlung der Antinomien nötigen vollständigen Umwälzung der Erkenntnistheorie nach Art einer kritischen Transzendentalphilosophie, auf deren Basis dann erst eine neue Begründung der Naturwissenschaft in Form der Metaphysischen Anfangsgründe (1786) und -unvollendet -der Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen zur konkreten Physik im Opus postumum erfolgen sollte. Zugespitzt lautet also die hier zu vertretende These: Kant entwickelte die transzendentalphilosophische Methode als erkenntnistheoretisches Mittel zu einem naturphilosophischen Zweck. Der bemerkenswerte Umstand, dass mit der Entdeckung der Transzendentalphilosophie ein Instrument von so hoher Durchschlagskraft und Eigenständigkeit geschaffen war, das ge- DZPhil, Berlin 54 (2006) 3, 1-16
doi:10.1524/dzph.2006.54.3.401
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