Sollen Kinder ihre Eltern ehren?

Anton A. Bucher
2022
Sollen Kinder ihre Eltern ehren? Pädagogisch-psychologische Anmerkungen zur Problematik und Aktualität des vierten Gebotes »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.«1 So beginnt -anklagend und hoffnungsvoll zugleich -Lloyd de Mause, Kindheitsforscher und Psychoanalytiker, seine »Hört ihr die Kinder weinen« betitelte Geschichte der Kindheit. Wer zählt sie: die na menlosen Kinder, die ausgesetzt wurden, in die Sklaverei verkauft, in Bergwerke gesteckt,
more » ... tigt, prostituiert, von Schwertern erschlagen, von Granaten zerfetzt, radioaktiv verstrahlt? Nicht immer waren (und sind) es Fernstehende, die den Kindern Leid zufüg(t)en: nur zu oft die Eltern. Fjodor M. Dostojewski) läßt in den »Brüdern Karamasow« den Intellektuellen Iwan, der wegen der Leiden unschuldiger Kinder seinen Gottesglauben verlor, erzählen, wie ein durchaus angesehenes Elternpaar aus dem Beamtenstand die fünfjährige Tochter peitschte und zwang, den eigenen Kot zu essen: »Die ganze Welt mit ihrer Erkenntnis ist doch nicht die Tränen dieses kleinen Kindes wert.« Gewiß: Viele der Täter und Täterinnen waren (und sind) selbst Opfer und räch(t)en sich, weil sie sich nicht zu wehren vermochten, am Kind, am Schwächsten der Schwachen. Die Literatur über Kindesmißhandlung2, speziell über Kindesmißbrauch ist zwischenzeitlich Legion und hat ermöglicht, öffentlich zu thematisie ren, was früher schamhaft verschwiegen wurde, aber hinter geschlosse nen Türen dennoch geschah. Jedoch kann dieser Diskurs den Blick dafür trüben, was in gewiß weit mehr Familien Tag für Tag eben auch geschieht: Daß Eltern ihre Kinder lieben und aufopfernd für sie sorgen. »Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt« (Ex 20,12). Soll dies auch für Kinder gelten, deren Eltern ihre Macht miß b rau ch ten und damit ihre Kindheit vergifte(te)n, mitunter ihr ganzes A n to n A . B u c h e r , Jahrgang i960, studierte Theologie und Pädagogische Psychologie in Fribourg; Promotion und Habilitation in Mainz im Fach Religionspädagogik, das er heute an der Universität Salzburg lehrt.
doi:10.57975/ikaz.v24i1.4898 fatcat:em6torrdx5ew7etruc3d3vdmja