Ueber den logischen Charakter der medizinischen Diagnose

Benno Slotopolsky
1919 Deutsche Medizinische Wochenschrift  
oopo1sky in Zürich. Die folgenden Betrachtungen bedeuten keine Vermehrung unserr konkreten Kenntnisse, sie sind rein gedanklicher Natur. Aber sie sind auch nicht einmal theoretisch im wahren Sinne des Wortes, da sie kein materielles Problem zum Gegenstand haben; sie beziehen sich vielmehr auf formale Probleme: auf die Methodologie der medizinischen Diagnostik. Eine derartige Untersuchung werden natürlich diejenigen ohne weiteres für wertlos ansehen, denen nur praktisch Brauchbares wichtig
more » ... int. Jodoch selbst die Vertreter der reinen Forschung dürften im allgemeinen logischen Untersuchungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete recht kühl gegenüberstehen, weil sie, der gegenwärtigen Tendenz in der Naturwissenschaft entsprechend, vorwiegend auf konkrete Fragen eingestellt sind. Aber es ist doch ersichtlich, daß der absolute Wert reiner Erkenntnis logischen Einsichten ebenso innewohnt, wie materiellen. Nicht nur das Auge, auch der Geist hat seinen Wissenstrieb. Das gilt selbstverständlich auch für die Medizin, nur daß eben das methodologische Gebiet in der modernen Medizin noch garnicht bebaut Ist. Die Technik der medizinischen Diagnostik wird täglich ausgebaut, verfeinert und kritisch analysiert, eine gleiche Behandlung ihrer Methode steht bisher noch aus. Selbstverständlich befolgt jeder Arzt und Kliniker bei der Stellung seiner Diagnosen eine gewisse Methode, selbstverständlich wendet er bestimmte logische Prinzipien dabei an, jedoch nur unbewußt, einer festen Tradition und einem methodologischen Instinkt folgend. Diesen methodologischen Mechanismus zu analysieren und bewußt zu machen bzw. kritisch zu beleuchten, ist Aufgabe einer medizinischen Methodenlehre, zu der die folgenden Zeilen einen kleinen Beitrag liefern sollen. Die medizinischen Diagnosen sind verschiedener Natur. In der modernen Medizin gebräuchlich ist die Unterscheidung klinischer und pathologisch-anatomiScher Diagnosen. Doch ein klarer Begriff wird damit nicht verbunden. Obwohl die Diagnose einer Leukämie, einer perniziösen Anämie einen pathologisch-anatomischen Tatbestand direkt konstatiert, also doch sicherlich eine pathologisch-anatomische Diagnose ist, wird man sie wohl gemeinhin als klinische bezeichnen. Das GTeiche dürfte für viele Diagnosen des Dermatologen, des Ophthalmologen, des Rhinologen, auch des Chirurgen gelten. Wie kommt das Klinisch" und "pathologisch-anatOmiSCh" schließen sich eben nach dem heutigen Sprachgebrauch nicht aus. "Klinisch" bedeutet einfach "zu Lebzeiten des Patienten". Zu Lebzeiten des Patienten lassen sich aber an diesem eben auch pathologisch-anatomische Diagnosen stellen. Klinische Diagnose" bezeichnet also keine bestimmte Methode. Klinisch" ist kein methodisch, sondern nur ein technisch-praktisch bestimmter Begriff. Leider aber ist der Begriff des Klinischen auch in dieser rein praktischen Formulierung nicht scharf umrissen. So wird er häufig ganz willkürlich auf die durch Anamnese, Inspektion, Palpation, Perkussion und Auskultation gewonnenen Diagnosen beschr.änkt, während etwa eine Wa.R. als etwas ganz Andersartiges dem Klinischen gegenübergestellt wird. Aus diesem Mangel an einem methodologisch begründeten Begriffe des Klinischen, aus dieser Unklarheit und Willkür fließen dann vom logischen Standpunkt geradezu ungeheuerliche Formulierungen, wie etwa die Antithesen Klinisch experimentell", oder gar Praktisch klinisch -theoretisch biologisch" (!). Bei derartigem Mißbrauch des Begriffes klinisch" handelt es sich offenbar um eine Verwechslung von Technik und Methode. Eine solche Verwechslung kann unter Umständen wie das folgende Beispiel aus einem anderen Wissensgebiete zeigen wird, auch sachlich zu schweren Irrtümern führen. Als die bekannten Präzipitinreaktionen von Friedental Nuttall u. a. eine gewisse chemische Uebereinstimmung zwischei dem Blute des Menschen und der menschenähnliöhen Affen ergaben, da hieß es sogleich -und noch heute herrscht diese Melnung -, nun sei die Stammesverwandtschaft von Affe und Mensch experimentell" erwiesen. In Wahrheit aber war dadurch zu den längst bekannten zahlreichen anatomischen Uebereinstimmungen noch eine interessante physiologische getreten, und die Methode, mittels derer man diese ermittelte, ist von der Methode des Ana. tomen garnicht verschieden. Was verschieden ist, ist nur die Technik. Das eine Mal wurde mit Messer und Pinzette, das andere Mal mit dem Reagenzglas gearbeitet, doch beide Male nach derselben, nämlich nach der vergleichenden Methode. Zwei Objekte wurden verglichen und die Gemeinsamkeit gewisser Merkmale konstatiert. Mit der experimentellen Methode, die auf Isolation und Variation von Bedingungen beruht, um einen funktionellen Zusammenhang aufzudecken, haben die vergleichenden Blutuntersuchungen an Affe und Mensch nichts zu tun, nur daß eben die dabei vorgenommenen Hantierungen dazu verführten, zu meinen, es handle sich dabei um eine Experimentaluntersuchung.') Wir gingen davon aus, daß in der neueren Medizin patho-. logisch-anatomische und klinische Diagnosen unterschieden werden, haben aber gesehen, daß diese Differenzierung für iinsre methodologischen Zwecke wertlos ist. Wir müssen von anderen Gesichtspunkten ausgehen. Insofern als die NaturWissenschaft Beziehungen zwischen den Naturphänomenen aufstellt, kann sie das auf zweierlei Art tun: auf begriffliche und auf reale Art. Wenn ich sage: Scharlach und Typhus haben ein gemeinsames Merkmal, sie werden durch Bahterien hervorgerufen; beide sind Infektionskrankheiten, so ist damit eine begriffliche Beziehung zwischen diesen beiden Naturerscheinungen gefunden, und beide sind zu einem gemeinsamen Oberhegriffe vereinigt worden. Sage ich dagegen : Das systolische Geräusch bei Mitralinsuffizienz kommt dadurch zustande, daß im Moment der Systole an der nicht schließenden Mitraiklappe durch das in den Vorhof zurückströmende Blut Wirbelbewegungen entstehen, so ist damit zwischen diesen beiden Phänmnen (dm Geräusch und der Kiappenveranderung) eine reale Beziehung gefunden. B9ide Phänomene sind in einen funktionellen Zusammenhang gebracht. Die charakterisierten b°ilen geistigen Tätigkeiten sind voneinander grundverschieden und führen auch zu verschiedenen Resultaten, die eine zur Prägung von Begriffen. die anIere zur Aufstellung von Kausalzusammenhängen. Es können nun dmgemiß auch an den Naturforscher zwei methodologisch ganz verschiedene Aufgaben herantreten: ein vorliegendes Natuirobjekt auf seine Merkmale zu untersuchen und danach unter den entsprechenden Begriff zu rubrizieren, zu klassifizieren, es zu .,bestimmen", oder aber für eine vorliegende Naturerscheinung die Tjrsache anzugeben. Die erste Aufgabe bildet das tägliche Brot des botanischer' und zoologischen ,Systematikers"2 die zweite wirJ fortwährend dem Physiologen gestellt. Der medizinische Diagnostiker hat es mit beiden Aufgaben zu tun und demgemäß auch methodisch je nach dem vorliegenden Falle ganz Verschiedenartiges zu leisten. Hat er z. B. eine psychiatrische Diagnose zu stellen, so verfährt er in der Regel prinzipiell gleich, wie etwa der botanische Systematiker bet einer Pflanzenbestimmung. Er untersucht das vorliegende Objekt (in diesem Falle die Krankheit) auf seine Merkmale und rubriziert es danach unter den zugehörigen Begriff. Die dabei angewandte rein vergleichende Methode (Vergleich des BegriffsinhalteS ¿ait den Merkmalen der Krankheit möchte ich als medizinische Systematik bezeichnen. Derartige Diagnosen -in der Psychiatrie so häufigkommen auch in der inneren Medizin vor. Nicht nur Diagnosen, wie etwa "Menièrescher SymptomenkomPlex", sondern auch viele andere, z. B. gerade wie Grippe", und ähnlich, vor der Entdeckung des Malariaparasiten, Malaria", erscheinen als nichts weiter, denn als bloße Symptomenkomplexe, d. h. als bloße Begriffe. Die Diagnose wird in diesen Fällen durch rein vergleichende Gedankenoperationen gestellt. Es gibt einen Begriff Grippe". Er enthält die Merkmale: Akuter Beginn, Fieber, Kopf-, Augenund Gliederschmerzen, große Hinfälligkeit, katarrhalische Erscheinungen. Der vorliegende Fall wird auf seine Merkmale untersucht, mit dem obigen Begriff verglichen und im Falle der Uebereinstimmung der Merkmale als Grippe bezeichnet, genau so, wie i) Eine ausführliche und sehr klare Darstellung dieser logischen Verirrung der modernen Deszendenztheorie hat ziirst T s e h u o k gegeben in "Das System der Biologie in Forschung und Lehre" S. 187/191. DEUTSCHE MEDIZINISCHE WOCHENSOHRIFT 99.? Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.
doi:10.1055/s-0028-1137996 fatcat:7g4c6j636rdfhkti7rtljkq4gm