Religionsfreiheit und Kindeswohl Wann ist die Körperverletzung durch Zirkumzision gerechtfertigt?

Dietrich Rolf, Bochum Herzberg, Bijan
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I. Religionsfreiheit Fateh-Moghadam setzt bei seinem Begründungsversuch alles auf eine Karte, nämlich die des Elternrechts und des Kindes-wohls, das die Beschneidung als ein Akt der präventiv-medizinischen Fürsorge befördere. Auf die Religionsfreiheit will er sich nicht berufen. Könnte er es denn? 15375): "Die Entscheidung der Eltern für eine Beschneidung ihres Sohnes sollte daher dann als im Kindeswohl stehend angese-hen werden, wenn es sich dabei um die bewusste Entschei-dung für die
more » ... ng einer körperlich ungefährlichen jahrtausendealten Tradition handelt." Aber sollten uns die Jahrtausende nicht eher erschrecken? Ein blutiges Ritual, das dem Gottes-und Menschenbild versunkener Zeiten gemäß gewesen sein mag, ist vielleicht nicht mehr so recht vereinbar mit einer Ethik und Rechtsordnung, die jedem, auch jedem Kind, "das Recht auf körperliche Unversehrtheit" (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) einräumt. So befragt fasst der Autor zunächst ein "generelles Verbot der religiös motivierten Beschneidung von Knaben" ins Au-ge. Er scheint zu übersehen, dass dieses Verbot nicht erst noch zu schaffen wäre, sondern schon jetzt in § 223 StGB ausgesprochen ist. Strenggenommen stimmt darum auch die Frage nicht, ob das Verbot "verfassungsrechtlich gerechtfer-tigt werden könnte", was Fateh-Moghadam "zweifelhaft" nennt. 5 Zu fragen ist vielmehr, ob hier das Verbot der Kör-perverletzung eine Ausnahme erleidet, weil bei religiöser Motivierung Art. 4 GG die von § 223 StGB erfassten Zir-kumzisionen rechtfertigt. Die Antwort ist nicht zweifelhaft, sondern eindeutig: Nein. Das Abschneiden der Vorhaut ist eine Körperverletzung, und § 223 StGB macht es grundsätz-lich zur Pflicht eines jeden Staatsbürgers, seinem Mitmen-schen keine Körperverletzung zuzufügen. Davon gibt es Ausnahmen (etwa für Fälle der Notwehr), aber die Religions-freiheit begründet keine. Das stellt Art. 140 GG ausdrücklich klar. Denn zum "Bestandteil dieses Grundgesetzes" macht er den Art. 136 der deutschen Verfassung vom 11.8.1919, und dessen Abs. 1 bestimmt: "Die bürgerlichen und staatsbürger-lichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt." Den Um-fang der Pflichten, die aus den Gesetzen folgen, vermindert also der Umstand, dass wir unsere Religion ausüben, um gar nichts. Oder, was dasselbe ist: Die Schranken, die solche Gesetze unserer Handlungsfreiheit ziehen, verschieben sich im Fall der Religionsausübung um keinen Millimeter. Z.B. wenn eine Frau in der fast leeren Kirche den Rosenkranz betet und Zeuge wird, wie zwei Bänke vor ihr ein alter Mann einen Herzinfarkt erleidet und um Hilfe ruft. Die Hilfe zu leisten ist dann nach § 323c StGB ihre gesetzliche, also staatsbürgerliche Pflicht, und Art. 140 GG stellt klar, dass sie sich in ihrer Religionsausübung sehr wohl "stören" lassen muss, d.h. sich nicht auf eine Rechtfertigung nach Art. 4 Abs. 2 GG ("Die ungestörte Religionsausübung wird gewähr-leistet") berufen kann. Es wäre ja auch eine empörende Un-gleichbehandlung, wenn in der Kirche die Putzfrau ihr Staubwischen selbstverständlich unterbrechen müsste, die fromme Dame ihr Beten aber ungerührt fortsetzen dürfte. II. Kindeswohl Fateh-Moghadam hat also recht daran getan, mit dem Aspekt der Religionsfreiheit nur zu liebäugeln, aber es mit einer Rechtfertigung über Art. 4 GG gar nicht erst zu versuchen. Entscheidend ist in der Tat, ob dann, wenn es an der kurativ-medizinischen Indikation fehlt, die elterliche Entscheidung für die Zirkumzision aus anderen Gründen als "zum Wohl des Kindes" getroffen bewertet werden kann.
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