Reich Gottes, Kirche und Prophetentum
H.-H.
1942
Es follen hier zunächft die Begriffe Kirche und Religion einerfeits und Reich Gottes und Prophetentum andererfeits voneinander abgegrenzt und in ihrem Verhältnis zueinander kurz dargeftellt werden. Damit dürften die nachfolgenden Ausführungen über das Prophetifche Wort und feine Bedeutung an Verftändlichkeit gewinnen, wenn ?.uch einige Wiederholungen dadurch unvermeidlich werden. Kirche, hier nicht im myftifch-idealiftifchen Sinne der theologifchen Spekulation und Dogmatik, fondern im
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... hen, landläufigen, praktifch gebräuchlichen Sinne des Wortes verftanden, ift jene Inftitution, wodurch die chriftliche Religion in ihren Lehren, Bekenntniffen, Kultformen und Einrichtungen bewahrt, organifiert und weiter tradiert wird, mit dem Zweck, die erlöfende Herrfchaft Gottes im Leben der Einzelnen und der Gefamtheit zur Geltung zu bringen. Kirche ift fomit nicht felbft Reich Gottes, fondern nur Mittel und Werkzeug zur Herbeiführung des Reiches Gottes. Kirche und Religion (letzteres ifl nur ein anderer allgemeinerer Ausdruck für das, was wir, etwas fefter umgrenzt, Kirche nennen) dürfen daher nicht als Selbftzweck betrachtet werden. Reich Gottes ift fomit überall dort, wo der Zweck der religiöfen oder kirchlichen Inftitutionen wirklich erreicht ift, das heißt alfo überall dort, wo Gott fpricht und geftaltend in die Welt und in das Leben der einzelnen Menfchen eingreift. Das Prophetentum nun hat die Aufgabe, darüber zu wachen und dahin zu wirken, daß diefer Zweck wirklich erreicht und nicht durch Erftarrungen oder Fehlentwicklungen des religiös-kirchlichen Lebens verhindert wird. Reich Gottes und Prophetentum find daher korrekte Begriffe. Das eine gehört zu dem anderen, ift ohne das andere nicht zu denken. Kein Reich Gottes ohne Prophetentum, und kein Prophetentum ohne Reich Gottes. Der Begriff des Reiches Gottes als der tatfächlichen Herrfchaft Gottes im Menfchen und in der Menfchheit als der realen Verbindung des Ewigen mit dem Zeitlichen, des Jenfeitigen mit dem Diesfeitigen, verlangt felbft danach, daß neben der gottgefetzten ordentlichen Autorität als dem ftatifchen Faktor der dynamifche, ftändig beunruhigende Faktor des Propheten tritt, der, durch unmittelbare außerordentliche Berufung eingefetzt, jeweils im notwendigen Augenblick die Brücke hinüberfchlägt vom Kirchentum zum Reiche Gottes. "Gott fchweigt, weil die Menfchen fchweigen", fagt einmal Erich Dwinger. Dies Wort beweift, wie kaum etwas anderes, die Notwendigkeit des hier geforderten prophetifchen Wortes. Wenn Gott fpricht, fo fpricht er in der Regel durch die Menfchen. Und wenn er in die Gefchichte der Menfchen eingreift, fo tut er es wiederum durch den Menx) Obfehon der Herausgeber diefer Hefte in bezug auf das Verhältnis von Kirche und Prophetentum nicht ganz gleich denkt wie der Verfaffer diefes Auffatzes, fei ihm doch gerne Aufnahme gewährt. R.
doi:10.5169/seals-138103
fatcat:qa4736k3fzay3hfhsnmlmdvm44