Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte

K. Erik Franzen
2016
Neue Literatur 533 Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2010, 839 S., 29 SW-Abb., 32 Tabellen, Karten, ISBN 978-3-506-77044-8. Eva und Hans Henning Hahn geht es darum, "verzerrte Bilder der Vertreibung" (S. 17) aufzudecken. Das ist ein lohnendes Unterfangen, denn noch immer gibt es eine Menge zu tun, wenn man sich mit dem deutschen Erinnern an "Flucht und Vertreibung" der letzten Jahrzehnte
more » ... igt. Zwar ist vieles inzwischen bekannt und sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs präsent, eine breite Zusammenschau fehlte aber bislang. Das Oldenburger Historikerehepaar legt mit der besprochenen Publikation nun ein Werk vor, das schon wegen seines Umfangs von mehr als 800 Seiten implizit den Anspruch erhebt, umfassend und differenzierend zu analysieren. Ihre langjährige Beschäftigung mit dem Thema findet hier ihren Höhepunkt -verdichtet auf eine Hauptthese: Die Geschichte der Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland ist durch eine gezielte Mythenbildung verschiedener Akteure geprägt. Dabei schöpfen Hahn und Hahn aus dem sehr Vollen. "Lasst Quellen sprechen" könnte ein zentrales Motto des Buchs lauten: Zitate beziehungsweise Zitatcollagen bilden ein Hauptelement und ermöglichen so manches Aha-Erlebnis nicht nur für professionelle Leser: Eine der Stärken des gut lesbaren Buchs ist es, dass die vier Hauptkapitel in sich geschlossen sind und auch Quereinsteigern ohne langen Atem einen Erkenntniszuwachs bescheren. Die ersten einhundert Seiten entfalten bereits das ganze Panorama. In ihrer "Galerie der Erinnerungsbilder" wird die bis heute verwirrende Flut von Erinnerungskonstruktionen entfaltet. Dazu zählt beispielsweise neben dem wahrscheinlich nie endenden Spiel mit den Opferzahlen die "Sage von Hass und Rache", die Hahn und Hahn "mentalgeschichtlich" im Nationalsozialismus verorten (S. 89). An das Ende dieses einleitenden Essays stellen die beiden Autoren übergroß die Warnung, nicht "das Erinnern an die Vertreibung von ihrem spezifischen historischen Kontext zu entkoppeln". Diesen Kontext sehen beide zu Recht vorrangig im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg -ihrer Einschätzung nach das ausschließliche Movens der Vertreibung. Damit unterschlagen Hahn und Hahn jedoch unnötigerweise andere Kontexte der Zwangsmigration, wie die europäische Umsiedlungspolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Im nächsten Abschnitt werden "verdrängte Erinnerungen" (S. 113) sichtbar gemacht. Dazu zählen Hahn und Hahn vor allem die ihrer Ansicht nach bewusst ausgeblendeten Teilkomplexe der massiven Bevölkerungsbewegungen des Zweiten Weltkriegs, die das NS-Regime zu verantworten hatte, etwa die "Rückführung Südost" oder die umfangreichen Räumungen im Osten des Großdeutschen Reiches. In der "Gründerzeit des Erinnerns", der frühen Nachkriegszeit, habe eine Entkoppelung des Erinnerns vom historischen Kontext stattgefunden. Zielgerichtet hätten bundesdeutsche Historiker und Politiker in einer konzertierten Aktion vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nun einen Opferdiskurs initiiert und am Leben erhalten, der eindeutig völkischen Deutungsmustern gefolgt sei. Das "Problem ,des
doi:10.18447/boz-2011-2869 fatcat:u3hqxshv3vb2rmezpo3ct74lqm