3 Wütende Texte im 20. Jahrhundert. Part 2: 3.3-3.4 [chapter]

2022 Wütende Texte  
schen Modelle, die seit der Antike immer wieder getrennt erschienen: Emotion und Rationalität, Zorn (Ilias) und List (Odyssee). 749 3.3 Wut als ästhetisches Spiel? Einerseits und andererseits -Ambivalenzen der Wut in Thomas Bernhards 'Alte Meister' (1985) Fragte man spontan nach Verfasser ✶ innen wütender Texte in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, würde sicher kaum ein Name so häufig genannt werden wie derjenige Thomas Bernhards. Feuilletons und Wissenschaft haben ihm
more » ... se ein "Virtuosentum der Wutanfälle" attestiert oder ihn "als einen der zornigsten deutschsprachigen Autoren" überhaupt bezeichnet. 750 Auch waren seine Texte immer wieder Anlass für Skandale und Rechtsstreite, was der verbreiteten Skepsis gegenüber der hier betrachteten Emotion entspricht. Und nicht zuletzt hat Bernhard selbst schon 1965 einen kurzen Essay 'Über den Zorn' publiziert. Darin geht der Autor ebenso auf Distanz zu Seneca wie zum Christentum und stellt auf diese Weise seinen theoretisch informierten Umgang mit dem Thema unter Beweis. "Hitler", so zitiert der Essay jedoch den als mutmaßlichen Kennedy-Mörder bekannten Lee Harvey Oswald, "war ein perverser, dem Zorn gehörender, dem Zorn höriger Schwächling" 751nach einem eindeutigen Loblied auf den Zorn, wie es nach den erwähnten Zuschreibungen zu erwarten wäre, klingt das nicht. Allerdings liefert jener Aufsatz mit den Stichworten Stoa bzw. Christentum und Nationalsozialismus zentrale Fluchtpunkte der folgenden Interpretation der 1985 veröffentlichten 'Alten Meister'. 752 Die roten Fäden der Argumentation sind dabei neben Struktur, Objekten und Beschaffenheit der präsentierten Emotion die damit verknüpften unterschiedlichen Strategien der Ambivalenzerzeugung. Auf diese Weise wird eine Anregung der Forschung aufgegriffen, Doppeldeutigkeit als wesentliche Verständniskategorie für das Werk Thomas Bernhards fruchtbar zu machen. 753 Das ist für die aktuelle Studie insofern relevant, als dadurch deutlich
doi:10.1515/9783110734478-008 fatcat:3qqs5tv4mza5tlp6hpwsqccm7m