Editorial: Erfolgsfaktoren oder Barrieren: Ein narratives 5-Faktorenmodell zur Erklärung der digitalen Trägheit unserer Schulen
Ralf Tenberg
2022
Die etwas Älteren unter uns kennen das noch aus ihrer Schulzeit. Es war ein blau bedrucktes Papier, das nach Spiritus roch und darauf befand sich zumeist ein Übungstext oder eine Klassenarbeit. Der Fachausdruck für dieses erste Kopierverfahren an unseren Schulen war "Matrizendruck" und es war damalsrückblickend betrachtetdie größte Medienrevolution an den Schulen, seit Erfindung der Wandtafel. Das Verfahren war einfach: die Lehrpersonen schrieb oder zeichnete das was vervielfältigt werden
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... auf ein spezielles Blattdie Matrize. Diese war rückseitig mit einem alkohollöslichen Wachs beschichtet, das Geschriebene oder Gezeichnete wurde dort durchgedrückt, ähnlich wie bei einem Kohlepapier. Ein darüber liegendes Blatt verhinderte jedoch, dass sich dann sofort die Kohlepapierwirkung entfaltete, dieses Blatt wurde erst entfernt, wenn man die Matrize in die Trommel des Kopiergeräts spannte. Drehte man diese dann, wurde ein Seriendruck in Gang gesetzt. Fortlaufend wurde ein Einzelblatt eingezogen, mit Spiritus an der Oberfläche benetzt und dann unter der Trommel mit der Matrize entlanggeführt. Der Alkohol löste die Pigmente aus der Matrize und sie bildeten auf dem Papier genau das ab, was auf der Matrize vorgezeichnet worden war. Mit jeder Kopie verlor die Matrize so an Substanz, nach spätestens 250 Abzügen war Schluss. Laut Wikipedia wurde das Verfahren 1923 von Wilhelm Ritzerfeld entwickelt. 1970 war es weltweit verbreitet auch in Verwaltung aber überwiegend im Schulsystem. Die Gründe für den Siegeszug der "Blaupause" waren ähnlich jenen, die zu ihrem Ende führten: 1. Das Verfahren war einfach. Man musste nur wenige Handgriffe kennen und Regeln beachten, um es wirksam umzusetzen. 2. Das Verfahren war sicher. Wenn man nicht gerade grobe Fehler machte oder einen die Maschine im Stich ließ bzw. der Spiritus ausging, konnte nichts schief gehen. 3. Das Verfahren war effizient. Man konnte mit geringem Aufwand einen hohen Skalierungsgrad erreichen. Bei einer Klassengröße von durchschnittlich 35 Schüler:innen ließ sich die Vorlage bis zu 8 mal verwenden. 4. Das Verfahren war unmittelbar. Man sah sofort das Ergebnis der eigenen Darstellung, ebenso eventuelle Fehler, es war nichts entfremdet oder kodiert, alles lag vor einem. 5. Das Verfahren korrespondierte mit der bisherigen Arbeitsweise der Lehrpersonen. Man konnte von Hand schreiben, oder mit der Schreibmaschine, oder auch mit Stift und Lineal zeichnen, musste keine neuen oder fremden Darstellungs-Techniken lernen. Und so, wie das Bessere der Feind des Guten ist, löste in den 1980er-Jahren dann die Fotokopie die Matrizenkopie an den Schulen ab, denn sie war in jedem der hier angeführten Punkte überlegen, zumindest wenn man nicht auf die Idee kam, über die Grundfunktionen des Kopiergeräts hinaus zu gehen, was die wenigsten taten. Bezogen auf den Aspekt 5 ergab sich sogar eine deutlich merkbare Rückwirkung auf die Arbeitsweise der Lehrpersonen, was nicht nur am zunehmenden Kopierpapier-Verbrauch an den Schulen nachgewiesen werden konnte, sondern sich in den morgendlichen Schlangen an den (Plural) Kopiergeräten der Schulen zeigte und in der Tatsache, dass sich immer mehr Lehrpersonen ein eigenes Kopiergerät nach Hause stellten, um eben jenen Schlangen aus dem Weg zu gehen. Bei garantierter Erfüllung der Erfolgsfaktoren 1 -4 bot die Kopiermaschine neue Möglichkeiten und Vorteile:
doi:10.48513/joted.v10i2.254
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