Aktuelle Fragen der historischen Erforschung der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen islamischen Welt

Bert G. Fragner
2018
Erlauben Sie mir vorneweg einige grundsätzliche Infonnationen, die Ihnen das Verständnis für die anschließend zu erörternden Probleme erleichtern mögen. Unter disziplinären Gesichtspunkten ist die Erforschung der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte der Islamischen Welt im wesentlichen in dem Fach "Islamwissenschaft", ferner aber auch in sowohl philologischen als auch regionalen und kulturwissenschafdichen Disziplinen wie Arabistik, Iranistik und Turkologie, allesamt sogenannte
more » ... entalistische Fächer, beheimatet. Das gilt insbesondere für die vormodernen Perioden der islamischen Geschichte. Was die Modeme angeht, können wir eine stärkere Diversifizierung der einschlägig zuständigen Fächer feststellen: neben die Vertreter von orientalistischen Fächern treten in der Forschung über neueste und Zeitgeschichte der Islamischen Welt auch Angehörige von Disziplinen wie Politologie, Soziologie, Ethnologie, dann und wann sogar "echte" Historiker! Diese Fächer-Distribution hängt zweifellos mit sprachlichen Problemen zusammen. Die überragende Bedeutung der einheimischen, originalsprachlichen Primärquellen für die vonnoderne Geschichte der sogenannten Islamischen Welt, also Nordafrikas sowie Vorder-, Mittelund zum Teil sogar Südasiens, steht sicherlich außer Zweifel. Die philologische Kompetenz der "Orientalisten" oder eine gleichwertige Qualifikation ist dafür unbedingt gefragt. Ein wenig anders sieht es schon aus, was die Modeme angeht, diejenige historische Periode, in der die gesamte, hier erörterte Region zunehmend in internationale Zusammenhänge und Abhängigkeiten eingebettet und verstrickt worden ist. Die Quellenlage ist für diese Periode erheblich verändert; angesichts der großen Menge verfügbarer, geschlossener Akten-und anderer Quellenbestände für die neueste Geschichte der Region in europäischen Sprachen tritt immer wieder an Nicht-Orientalisten die Versuchung heran, sich unter Ausschluß des sprachlichen Zugangs zu einheimischen Quellen trotzdem an einschlägige Themen heranzuwagen. Mangelnde oder nicht vorhandene Kenntnisse des Arabischen, Persischen, Türkischen etc. werden dann gern durch die Aussicht kompensiert, vergleichsweise üppige Sekundärliteratur zur Hand zu haben, mit der es sich womöglich auch noch trefflich kritisch auseinandersetzen läßt. Auf dieses Thema wird zurückzukommen sein. Zunächst aber noch einiges zur Behandlung der historischen Forschung über die Islamische Welt im Rahmen der oben benannten orientalistischen Fächer: eine ausgeprägte historische Forschungstradition ist in der Islamwissenschaft unter der Voraussetzung entstanden, daß bei der Beschäftigung mit der islamischen Religion auch viele Fragen nach ihrer Entstehungsgeschichte gestellt werden mußten. Unter dem Einfluß religionshistorischer, theologischer Forschungsweisen, aber auch solcher der Klassischen Philologie sowie der Alten Geschichte entwickelte sich alsbald eine historische Tradition innerhalb der Islamwissenschaft, vor allem bezogen auf das, was wir üblicherweise die "Frühzeit" und die "Fonnative Periode" der islamischen Religion nennen. In dem damit verbundenen Geschichtsbild mehrerer Generationen islamwissenschaftlicher Forscher schloß an diese ersten zwei oder drei Jahrhunderte islamischer Geschichte noch eine Periode der "Klassischen Zeit" an, die mit dem Sturz des abbasidischen Kalifats in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihr Ende fand. überspitzte Bonmots wie dasjenige, daß damit auch jegliche islamische Geschichte aufgehört habe, sind heute so gut
doi:10.20378/irbo-50084 fatcat:2zwkveqc3zhpvldniqjknurzfq