Sterben
[chapter]
2020
Zeit im Lebensverlauf
Der Zusammenhang des Sterbens mit Fragen der Zeit ist vielfältig. Aus einer anthropologischen Perspektive lässt sich feststellen, dass das Bewusstsein von Sterben und Tod häufig mit der conditio humana in Verbindung gebracht wird: Menschen wissen, dass sie sterblich sind und sterben müssen, wobei sie in der Regel nicht wissen, wann, wo und wie sie sterben werden. Daraus ist wiederum aus philosophisch-anthropologischer Perspektive der Schluss gezogen worden, das ganze Leben als einen
more »
... s zu sehen, der vom ersten bis zum letzten Tag andauert. Bei genauerer Betrachtung erstreckt sich die Gegenwart des Todes vielfach ins Leben und drückt sich etwa in den Formen von Vergänglichkeit, Sterblichkeit, Altern, Unterdrückung, Einsamkeit, Verzweiflung und Krankheit aus. Aus pädagogischer Sicht wurde Wert darauf gelegt, dass man dieses lebensbegleitende Sterben auch lernen können muss, damit das eigene Leben als Vorbild für die Nachkommen oder als Vorbereitung auf die Ewigkeit verstanden werden kann. Aus historischer Perspektive ist darauf verwiesen worden, dass Sterben und Tod heute als verdrängt gelten (vgl. Ariès 1999). Genauer müsste wohl gesagt werden, dass die Moderne das eigene Sterben und den eigenen Tod verdrängt hat, während Sterben und Tod gleichzeitig in medialer und fiktionaler Aufbereitung nahezu omnipräsent sind. Diese Verdrängungen führten -so soziologische Perspektiven -zu einer neuen Sterbekultur, die ein würdevolles Sterben kaum möglich zu machen scheint. Während ehemals die Einsamkeit der Sterbenden und Trauernden im kollektiven Trauerritual aufgehoben erschien, sterben die Sterbenden heute oftmals einen einsamen Tod, bei dem sich die Trauer in sehr überschaubaren individuellen Grenzen hält. Zeittheoretisch lässt sich festhalten, dass die Trauer Menschen an die Grenzen des Zeitverstehens führt. Trauer erscheint als ein emotionales Grenzphänomen, das sich gegen den Zerfall, gegen das Verschwinden und Verschwenden, das Teilnahmslose und Gleichgültige richtet. Die Trauer um den toten Anderen konfrontiert die Menschen auch mit der Radikalität ihres eigenen Todes, mit der Unvertretbarkeit der Sterblichkeit und mit der Sinnlosigkeit der Endlichkeit.
doi:10.14361/9783839448625-045
fatcat:ctetfpg6anavxogp4jwrvdswbi