"O Israel, Erstling im Morgengrauenkampf" (Nelly Sachs) : zu Funktion und Theologie der Gotteskampfepisode Gen 32, 23-33
Peter Weimar
2015
Wenn Nelly Sachs in ihrem »Jakob« überschriebenen Gedicht die fremdartig erschreckende Episode vom Gotteskampf in Gen 32,23-33 erinnert* 1, dann wird auf einmal in der Sprengung überlieferter Formen, der Kühnheit zueinander gefügter Bilder, der Schaffung einer neuen Sprache das Ungeheuerliche jenes Geschehens am Jabbok selbst transparent2. In der »Klage« der Nelly Sachs wird Jakob-Israel zu einem Sinnbild der Menschheit schlechthin, der leidenden Menschheit, die ausharren muß im »Morgen
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... mpf«, die sich ausgeliefert sieht einer »zersplitterten Existenz«3, die Gott erlei den und erringen muß (»zu Gott verrenkt«), aber zugleich von diesem Gott gezeichnet ist. Das fraglos ungewohnte, da gängige Muster aufbrechende Neulesen der Geschichte vom Gotteskampf, wie es bei Nelly Sachs geschieht, eröffnet darin jedoch auch einen neuen Zugang zur biblischen Überlieferung selbst, insofern dadurch die in Gen 32,23-33 er zählerisch gestaltete, auf Leben und Tod gehende Auseinandersetzung mit Gott, der »Got teskampf«, die ihr eigene Radikalität zurückgewinnt. Auch wenn von der Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok immer wieder neu eine nicht unerhebliche Faszination ausgegangen ist4, so ist auf der anderen Seite nicht zu Der folgende Beitrag geht auf eine am 18.1.1989 gehaltene Gastvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität München zurück, deren Text für den Druck erweitert und überarbeitet worden ist. 1 N. Sachs, Fahrt ins Staublose. Gedichte, Frankfurt/M. 1961 = st 1985 (Frankfurt/M. 1988) 90f. -Ein zweites Gedicht der Nelly Sachs zum Thema des Gotteskampfes ist zitiert bei B. Holmquist, Die Sprache der Sehnsucht, in: Ders. (Hrsg.), Das Buch der Nelly Sachs (st 398) Frankfurt/M. 1968, 7-70 (18). 2 Eine knappe Interpretation des Gedichts gibt G. Fuchs, Angeschlagen und ausgezeichnet. Zur Aktualität der Geschichte vom Jakobskampf (Gen 3 2 ,2 3 -33), KatBl 103 (1978) 385-394 (388-390). 3 B. Holmquist, ebd. 18. 4 Im vorliegenden Zusammenhang kann nur generell auf die Rezeption der Gotteskampfepisode in der bilden den Kunst (vgl. die eindrucksvolle Darstellung in der Wiener Genesis [dazu K. Clausberg, Die Wiener Genesis. Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte, Frankfurt/M. 1984]) und Literatur (vgl. dazu R. Couffignal, La lutte avec l'ange. Le récit de la Genèse et sa fortune littéraire, Toulouse 1977) verwiesen werden. 5 Vgl. auch die entsprechende Feststellung bei E. Blum, Die Komplexität der Überlieferung. Zur diachronen und synchronen Auslegung von Gen 3 2 ,2 3 -33, DBAT 15 (1980) 2-55 (2). 6 H. Gunkel, Genesis (HK 1/1) Göttingen 31910 = 71966, 364. 7 Vgl. nur O. Kaiser, Die mythische Bedeutung des Meeres in Ägypten, Ugarit und Israel (BZAW 78) Berlin 21962, 95. 8 Die Notwendigkeit, der Gotteskampfepisode ihre theologische Dimension wiederzugeben, ist auch sonst ver schiedentlich betont worden; vgl. hier nur die -im einzelnen von anderen Voraussetzungen herkommenden -Versuche von K. Eiliger, Der Jakobskampf am Jabbok. Gen 32,23 ff als hermeneutisches Problem, ZThK 48 (1951) 1-31 = Kleine Schriften zum Alten Testament (ThB 32) München 1966, 141-173 und H.-J. Hermisson, Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 3 2 ,2 3 -3 3 ) , ZThK 71 (1974) 2 3 9 -2 6 1 . 9 Die im folgenden nur abgekürzt benannten Gesichtspunkte werden ausführlicher in meinem in Kürze in BN erscheinenden Beitrag »Beobachtungen zur Analyse von Gen 3 2 ,2 3 -33« diskutiert und entsprechend dokumen tiert. 10 Vgl. hier stellvertretend nur H. Gunkel, HK 1/1, 363-365. 1 1 Im Rahmen der nachfolgenden Überlegungen zur Gotteskampfepisode kann der nur locker angebundene und aus der Erzähltradition völlig herausfallende V.33 unberücksichtigt bleiben, da es sich hierbei allem An schein nach um einen glossenhaften Zusatz handelt, der als solcher den vorliegenden Erzähl Zusammenhang von Gen 3 2 ,4 -33,17 schon voraussetzt (zur Textabgrenzung s. u.). 12 Zu diesem Phänomen vgl. vor allem E. Blum, DBAT 15 (1980) 2 -55 und A. Butterweck, Jakobs Ringkampf am Jabbok. Gen 3 2 ,4 ff in der jüdischen Tradition bis zum Frühmittelalter (Judentum und Umwelt 3) Frank furt/M . -Bern 1981, 36ff. 13 Nach H. Utzschneider, Das hermeneutische Problem der Uneindeutigkeit biblischer Texte -dargestellt an Text und Rezeption der Erzählung von Jakob am Jabbok (Gen 3 2 ,2 3 -33), EvTh 48 (1988) 182-198 läßt die Erzählung in V.29 und V .31 die Adressaten »aus dem Handlungszusammenhang gleichsam aussteigen« und »kommentiert« sich hier gewissermaßen selbst (187). 14 Auf die Bedeutsamkeit von Wortspielen im Rahmen der Gotteskampfepisode (vor allem -trotz des Ein spruchs von K. Eiliger, ThB 32, 149 Anm. 14 [»Illusion der Exegeten«] -von j cqbjbq -' bq) ist immer wie der hingewiesen worden (vgl. S. McKenzie, »You Have Prevailed«. The Function oft Jacob's Encounter at Peniel in the Jacob Cycle, RestQ 23 [1980] 225-231 [226]); auch die strukturbildende Bedeutung von Leitworten hat gelegentlich Beachtung gefunden (vgl. E.Blum, DBAT 15 [1980] 15 ff). fignal, »Jacob lutte au Jabboq«. Approches nouvelles de Genèse XXXII, 23-33, RThom 75 (1975) 582-597 = Ders. (A nm .4) 11-29; X. Durand, Le combat de Jacob (Gen 3 2 ,2 3 -33). Pour un bon usage des modèles narratifs, PoinT 24 (1977) 99-115; W.Roth, Structural Interpretations of »Jacob at the Jabbok« (Genesis 32: 23-32), BR 22 (1977) 51-62; A. de Fury, Jakob am Jabbok, Gen 3 2 ,2 3 -33 im Licht einer altirischen Erzäh lung, ThZ 35 (1979) 1 8 -3 4 ( 2 2 -2 8 ) . 20 Vgl. auch die entsprechenden Erwägungen bei B.Diebner, Das Interesse der Überlieferung an Gen 3 2 ,2 3 -3 3 , DBAT 13 (1978) 1 4 -5 2 (16f.45). 21 Vgl. nur M.Noth, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948 = Darmstadt 31966, 104 (»eine ausgesprochene Einzelerzählung«). 22 Zur Diskussion vgl. G. Hentschel, Jakobskampf am Jabbok (Gen 3 2 ,2 3 -33) -Eine genuin israelitische Tradition?, in: Dienst der Vermittlung. FS zum 25jährigen Bestehen des Philosophisch-Theologischen Studiums im Priesterseminar Erfurt (EThSt 37) Leipzig 1977, 13-37 (14-19). 23 Als Hinweis auf eine »Verknüpfung der Einheit mit einem sie übergreifenden erzählerischen Kontext« (vgl. Gen 3 2 , 10a) wird das Fehlen einer expliziten Nennung des Handlungssubjekts in V .23+ 24 insbesondere von J. R Floß, Wer schlägt wen? Textanalytische Interpretation von Gen 3 2 ,2 3 -33, BN 20 (1983) 92-132 (103 f. 128f) und BN 21 (1983) 66-100 (8 6 f) gewertet (vgl. auch schon H. Eising, Formgeschichtliche Untersuchung zur Jakobserzählung der Genesis, Diss. Münster 1939 [Emsdetten 1940] 119); die Annahme einer nachträglichen Streichung von »Jakob« als Handlungssubjekt in V .23aa bei Einarbeitung der (als Einzelerzählung verstande nen) ursprünglichen Fassung der Gotteskampfepisode in den größeren Erzählzusammenhang (vgl. L. Schmidt, Der Kampf Jakobs am Jabbok [Gen 3 2 ,2 3 -3 3 ] , ThViat 14 [19778/78] 125-143 [128f]) läßt sich m .E. nicht wahrscheinlich machen. 24 Der Überleitungscharakter von V. 2 3 + 2 4 ist generell anerkannt; umstritten ist dagegen der Zusammenhang beider Verse mit V .25-32 (vgl. A. Butterweck [Anm. 12] 2). Da es angesichts des Fehlens einer Exposition kaum angeht, den Beginn der Gotteskampfepisode in V.25 (25b) zu sehen (vgl. S. A. Geller, JANES 14 [1982] 37 Anm. 1), wird dieser im Rahmen von V. 2 3 + 2 4 zu suchen sein, wobei entweder angenommen wird, daß beide Verse insgesamt ein redaktioneller Ersatz anstelle der ursprünglichen Exposition der Erzählung sind (vgl. E. Otto, Jakob in Sichern. Überlieferungsgeschichtliche, archäologische und territorialgeschichtliche Studien zur Entstehungsgeschichte Israels [BWANT VI/10] Stuttgart 1979, 41 Anm. 1), oder aber, daß sich hinter V. 2 3 + 2 4 Elemente der ursprünglichen Erzähleinleitung verbergen, die sich als solche (zumindest teilweise) noch rekon struieren lassen (vgl. H.-J. Hermisson, ZThK 71 [1974] 241 f Anm. 8). 25 Hinweise im Blick auf eine Ausgrenzung von Gen 3 2 ,4 -33,17 als für die Gotteskampfepisode bestimmen der Erzählrahmen ergeben sich einerseits aufgrund der unverkennbaren Strukturparallelität von Gen 32,1-3 und 33,16+17 (vgl. E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte [WMANT 57] Neukirchen-Vluyn 1984, 148) sowie andererseits aufgrund der durch Stichwortbezüge angezeigten Geschlossenheit der Erzähl folge von Gen 3 2 ,4 -33,17 (vgl. die Entsprechungen zwischen Gen 3 2 ,4 -6 und 33,14-16). 26 Zur für Gen 3 2 ,4 -33,17 charakteristischen Leitworttechnik vgl. hier nur EM. Th.de Liagre Böhl, Wort spiele im Alten Testament, JPOS 6 (1926) 196-212 = Opera Minora, Groningen -Djakarta 1953, 11-25 (22-25); J. P. Fokkelman, Narrative Art in Genesis. Specimens of Stylistic and Structural Analysis (SSN 17) Assen 1975, 197-231; E. Blum, DBAT 15 (1980) 9 -1 5 und W MANT 57, 142; S. A. Geller, JANES 14 (1982) 41 ff. 27 Es wird m. E. nicht immer hinreichend beachtet, daß die hier genannten Leitworte -trotz ihres Fehlens in Gen 3 2 ,2 3 -32[33] -in der Gotteskampfepisode ihren nach hinten wie vorne vermittelnden inneren Bezugs punkt haben, wie unschwer eine nähere Analyse der einzelnen Leitworte zeigen könnte. 100 Zu einem entsprechenden Verständnis der Namensfrage in V .28 vgl. B. Jacob, Genesis 639 und (im An schluß daran) R Weimar, OBO 32, 260, aber auch die kritische Stellungnahme dazu von A. R. Müller, Martin Bubers Verdeutschung der Schrift (ATS 14) St. Ottilien 1982, 8 6 f, der zu Recht darauf aufmerksam macht, daß eine dahingehende Interpretation sich nicht auf »der Ebene der Syntax und Semantik« entscheiden lasse, sondern »eine Sache der Pragmatik« sei (87). -Daß die Namensfrage V.28 als solche kein Eigengewicht trägt, sondern intentional auf die Kundgabe des Namens Israel V. 29 bezogen ist, darauf hat mit Verweis auf Ex 4 ,2 vor allem A. B. Ehrlich, Randglossen zur hebräischen Bibel. Textkritisches, Sprachliches und Sachliches. I. Genesis und Exodus, Leipzig 1908 = Nachdruck Hildesheim 1968, 168 aufmerksam gemacht. 101 Trotz nicht unerheblicher Bestreitung der ursprünglichen Zugehörigkeit von Gen 35,10 zu PS (vgl. die Übersicht bei W. Groß, Jakob, der Mann des Segens. Zu Tradition und Theologie der priesterschriftlichen Jakobs überlieferungen, Bib 49 [1968] 321-344 [329 f]) wird der Vers heute generell als priesterschriftliche Bildung qualifiziert, wobei bei der Mehrzahl der Autoren für Gen 35,10 mit einer genauen Kenntnis von Gen 3 2,2 7 b -30 gerechnet wird (ebd. 330). 102 In diese Richtung votieren B. Jacob, Genesis 639, H. Seebass, BZAW 98, 20 und C. Westermann, BK 1/2, 632. 103 Vgl. dazu nur W Groß, Bib 49 (1968) 3 3 0 ff und R Weimar, Gen 17 und die priesterschriftliche Abrahamge schichte, ZAW 100 (1988) 2 2 -6 0 (26 Anm. 17). 104 Im Gegensatz zur Verbindung von Segnung und Umnamung erlauben die sonstigen Entsprechungen zwi schen Gen 3 2 ,2 8 + 2 9 und Gen 35,9+10 kein eindeutiges Urteil; nicht nur hinsichtlich der angefügten ätiologi schen Begründung läßt Gen 3 2 ,2 9 gleichermaßen aber auch Bezüge zu der bei PS zu Gen 35,10 korrespondie renden Umnamung Gen 17,5 erkennen, was möglicherweise als Argument dafür gewertet werden darf, daß für Gen 3 2 ,2 8 + 2 9 beide priesterschriftlichen Umnamungen im Blick stehen. 105 Gerade unter der Voraussetzung gleicher literargeschichtlicher Herkunft für V. 29 und V. 31 verdient der auffällige Wechsel zwischen 'mr /V-Stamm und q r' erhöhte Aufmerksamkeit, zumal q r' »das übliche Verb der Benennung« ist (J. Fichtner, Die etymologische Ätiologie in den Namengebungen der geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, VT 6 [1956] 372-396 [383]).
doi:10.5282/mthz/3394
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