Vielleicht mochte der Buddha keine Krähen
Christian Von Zimmermann
2020
unpublished
Christian von Zimmermann " 24. September 2020 # Allgemein I m Gegensonnenlicht zeigt sich das feine Radnetz einer gerade versteckten Spinne. Es spannt zwischen dem Lenkrad meines Fahrrades und der kleinen Betonmauer des tieferliegenden Unterstandes, die sich über das Bodenniveau des Vorgartens erhebt. Vorgarten ist ein lustiger Ausdruck, denn an der Stelle sorgsam gep!egter Rabatten "ndet sich hier ein nadelbedeckter Boden mit wenigen Natursteinplatten. Gut geeignet jedenfalls als Abstellplatz
more »
... ür das Fahrrad, das nun schon einige Wochen unbenutzt dort auf dem aufgeklappten Ständer ruht. Spinnennetz und Fahrrad bilden ein schönes Symbol für den eingeschränkten Radius. Dass der Vogelbrunnen gleich schon wieder erwähnt wird, ist ebenfalls meinem weiterhin geringen Bewegungsraum geschuldet: Am Abend sass dort eine schüchterne Kohlmeise zaghaft am Rand und nippte nervös vom Wasser. Sie nutzte die günstige Gelegenheit. Das frechere Spatzenvölkchen tobte gerade nicht herbei. Die Amsel, die mitunter -!atsch -einfach mitten im Vogelbrunnen ihr Bad nimmt, würde sogar die Spatzen auseinander scheuchen, war aber schon länger nicht mehr EDITORIAL BEIM LESEN LOCKDOWN 2020 source: https://doi.org/10.7892/boris.148299 | downloaded: 29.11.2020 da. Die situationsbedingt erhöhte Aufmerksamkeit für die Tiere in meiner Mitwelt weckt die Erinnerung an eine liebe kluge Freundin, die leider viel zu früh verstorben ist. Die Krankheiten der Katzen, denen sie sich als »Dosenö#nerin« widmete, waren ihr genauso wichtig wie ihre eigene schwere Krankheit. Bis zuletzt. In einer spannenden Arbeit über Jeremias Gotthelfs literarisches Verhältnis zu Tieren, zitierte sie den Schriftsteller: »Aber leben möchte ich noch ein Jahr, um zu vernehmen, wie und was Kühe und Hühner sprechen.« Als letzten Satz ihres Textes fügte sie hinzu: »Und wer möchte das nicht.« Diese Zeit war ihr gegönnt, aber nicht viel mehr. Vor einiger Zeit schon entdeckte ich bei antiquarischen Streifzügen den Roman »Jack« des einmal populären Schweizer Naturschriftstellers Paul Vetterli. Eine recht banale Försterfamiliengeschichte ist in diesem 1924 erschienenen »Roman einer Krähe« mit kenntnisreichen und empathischen Einsichten in die Krähenbiogra"e verbunden. Selbst sprachlich bemüht sich Vetterli darum, eine möglichst dichte Beschreibung der Erlebniswelt der Krähe zu geben. Keine Hochliteratur, aber ein berührendes Zeugnis für die Zugewandtheit eines Menschen gegenüber dem Tier. Krähen sind überhaupt faszinierende Vögel, besonders die japanischen Dickschnabelkrähen, deren vorwitziges Bemühen, einen Getränkeautomaten zu plündern, mich in Sapporo die Zeit vergessen liess.
doi:10.7892/boris.148299
fatcat:qbsecoeafnax3djapaaiwulk44