Die kulturpoetische Funktion des Archivs
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Moritz Baßler, Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer
2020
Logiken der Sammlung
1 Es gibt eine erschütternde Episode in Wilhelm Raabes später Erzählung Die Akten des Vogelsangs (1896), wo Velten Andres nach dem Tode seiner Mutter das gesamte Inventar seines Elternhauses verheizt.1 Er zerstört damit die letzten Zeugnisse einer vergangenen nachbarschaftlichen Idylle im Vogelsang, einer Gegend, die inzwischen von Fabriken und Vergnügungsetablissements geprägt und zur Unkenntlichkeit modernisiert ist. Veltens Schulfreund Krumhardt, den gutbürgerlichen Ich-Erzähler, ergreift
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... r diesem Autodafé eine ihm selbst unheim liche Begeisterung: Worin lag nun der Zauber, der mich [...] jeden Tag nach der alten Heimstätte trug, die jetzt zu einer Stätte der Vernichtung geworden war? [...] Wohl selten ist je einem Menschen die Gelegenheit geboten worden, seine "besten Jahre" in die unruhvolle Gegenwart so zurückzurufen wie mir in Velten Andres' Krematorium. Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft [...] gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten Maße und konnte meine Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der wankenden Erde [= Velten Andres] schob aus seinem Hausrat kaum ein Stück in den Ofen oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde. (Raabe 1988, 166) Der Ziegenhainer, die Zerevismütze, das alte Schaukelpferd -alle werden sie noch einmal Anlass, die mit ihnen einst verbundenen Diskurse zu erinnern und aufzuschreiben, ad acta vitae zu legen, die dann jenes Buch ausmachen, das den Titel Die Akten des Vogelsangs trägt. Krumhardt selbst, sein fiktiver Verfasser, ist da übrigens längst vom Vogelsang weggezogen -in der Erzählgegenwart ist er wohnhaft in der Archivstraße! Mit Archiven hat man es hier in zweierlei unterschiedlicher Form zu tun: zum einen mit dem Elternhaus voller Objekte aus vergangenen Zeiten, zum anderen mit den schriftlichen Akten, in denen ein Zeitzeuge die "Nachbarschaft", d. h. die Kontiguitätszusammenhänge notiert, in denen diese Objekte einst standen -in jenen Zeiten, da sie noch Bestandteile praktischen Lebens und nicht bloß Sam-1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version meines Aufsatzes Was nicht ins Archiv kommt. Zur Analysierbarkeit kultureller Selektion (vgl. Baßler 2007). Die zugrundeliegende Archivtheorie habe ich ausführlich entwickelt in Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (vgl. Baßler 2005).
doi:10.1515/9783110696479-003
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