Von uns werden ein Leben lang Alterswerke erwartet [article]

Manfred Freitag, Joachim Nestler, Mediarep, Philipps Universität Marburg
1993
Von uns werden ein Leben lang Alterswerke erwartet Manfred Freitag: Wir brauchen bloß an den Dün"enmatt-Satz zu denken, daß eine Geschichte dann zuende erzählt ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Nun kann man über den Begriff "schlimmstmögliche Wendung" streiten, aber über das, was er meint, nicht. Er zielt auf die Konsequenzen einer Geschichte hin, und genau die scheuen wir aus den unterschiedlichsten Gründen. In diesem Sinn werden die Unvollkommenheiten, die eine
more » ... hte im Entwurf eigentlich immer hat, bei uns tatsächlich zu einer Gefahr für den Autor. Es ist ihm ja zunächst nicht zu verdenken, daß er mit großen Vertrauen eine Partnerschaft eingeht. Nun wäre es sicher auch unfair zu sagen, dieses Vertrauen würde von unseren Studiopartnern mißbraucht, der Stoff würde von ihnen mit Absicht verbogen. Das ist viel komplizierter, zum Teil auch ein unbewußter Vorgang, den Christa Wolf einmal mit dem Ausdruck "zu frühe Selbstzensur" umschrieben hat. Dinge, vor denen man zurückscheut, ohne sie eigentlich wirklich durchdacht zu haben. Gleich immer zu sagen: "Das kriegen wir sowieso nicht durch", statt erst einmal überhaupt damit zu spielen, es auszuprobieren. Dann könnte man sich vielleicht auch besser entscheiden, welche Kompromisse man eingeht und welche nicht. Denn anzunehmen, daß in der Kunst sonst nie Kompromisse eingegangen worden sind, wäre auch Unfug. Die hat es immer gegeben. loachim Nestler: Auf die Abhängigkeit des Kinoerfolges von der "schlimmstmöglichen Wendung" hat Dudow übrigens schon zu einer Zeit hingewiesen, als die Kinos noch voller waren und das Fernsehen noch keine so große Rolle spielte. In seiner zugespitzten Art hat er etwa gesagt: Wenn wir mit unseren Filmen überhaupt noch durchdringen wollen, müssen wir Skandal machen. Er meinte damit, daß wir in unseren Filmen bewegende gesellschaftliche Fragen mit unerbittli~her künstlerischer Konsequenz auf den provokanten Punkt hinauftreiben, daß wir aufregen, Diskussionen pro und kontra hervorrufen müssen. Und das hat Dudow mit seinen Filmen meist getan. Die kontroversen Diskussionen um Frauenschicksale und Verwirrung der Liebe habe ich nicht vergessen. Unumgänglich wäre es auch zu einer sol-
doi:10.25969/mediarep/580 fatcat:fclvfdbqtffdtmc6r3mfb4e2pu