Ein Jahr Macron: Der gebremste Präsident

Claire Demesmay, Julie Hamann
2018 unpublished
Vor einem Jahr wurde Emmanuel Macron mit einem ehrgeizigen Reformprogramm gewählt: Innenpolitische Reformen sollen die französische Wirtschaft und das Sozialsystem tiefgreifend ändern; die EU will er in der Verteidigungs-, Währungs-und Migrationspolitik voranbringen. Während Paris die Strukturreformen des französischen Sozial-und Wirtschaftssystems anging, stockt die Europapolitik. Die deutsche Politik verharrt in alten Denkmustern und zögert-obwohl Macron mit seiner Agenda ein hohes Risiko
more » ... eht. Das deutsche Verhältnis zu Frankreich wirkt zurzeit-pardon our French-schizophren: Selten war die Un-terstützung für einen französischen Präsidenten über (fast) alle Parteigrenzen so groß wie heute. Bekenntnisse zu den deutsch-französischen Beziehungen haben an Ernsthaftigkeit gewonnen und brechen öfter aus den eingeübten Ritualen aus. Deutlich wurde das im Januar anlässlich des 55-jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags, als erstmals Abgeordnete des jeweils anderen Parlaments an Plenardebatten im Bundestag und der Assemblée Nationale teilnahmen. Macrons Vorstoß zu einem neuen Elysée-Vertrag wird in Berlin mit so großem Einsatz verfolgt, dass die Beziehung zum Nachbarland einen zen-tralen Platz im Koalitionsvertrag bekommen hat. Und dennoch stoßen seine Vorhaben für Europa in großen Teilen der Bundesregierung und der Öffentlich-keit auf Ablehnung. Das Titelbild des Spiegels nach der französischen Wahl illustrierte Deutschlands Zerrissen-heit angesichts des "teuren Freunds" Macron. Konnte man in Wahlkampfzeiten noch vermuten, dass viele deutsche Politiker die Frage nach mehr Ausgaben für die EU mög-lichst aus der öffentlichen Debatte fernhalten wollten, zeigt sich heute, dass die Vorbehalte in der Politik reell und hartnäckig sind. Macron dient den Deutschen als Projektionsfläche, auf der jeder etwas von seinen eigenen Ideen abbilden kann: Für Pro-Europäer sind Stichworte wie "die Sor-bonne-Rede" Ausdruck der großen Sehnsucht nach mehr Idealismus und ein bisschen Pathos in der Europadebatte. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt erhielt der französische Präsident bereits den Aachener Karlspreis für seine "kraftvolle Vision eines neuen Europas". Bei Sozialdemokraten und Grünen rufen Anklänge an eine Bewegung "von unten", die sie in En Marche verkörpert sehen, und die Idee von europaweiten Bürgerkonsulta-tionen Begeisterung hervor. Liberale und Konservative dagegen schätzen besonders seinen innenpolitischen Re-formkurs, hatte doch vor allem Deutschland die von der Europäischen Kommission empfohlenen Strukturrefor-men lange angemahnt. Auch die restriktivere Migrations-politik findet bei ihnen Anklang. Jeder pickt sich also das heraus, was ihm am besten in eigene Denkmuster passt, und ignoriert dabei andere Bereiche, die das komplexe Bild des französischen Präsidenten ausmachen.
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