Das Leiden - eine Aufgabe
Peter Henrici
2022
Wie kann Gott so etwas zulassen?« -diese Frage drängt sich uns unwillkür lich auf, wenn wir ein großes und unverdientes Leiden sehen. Vielleicht richtet sich die Frage jedoch an den falschen Adressaten. Vielleicht verstellt uns die Anfrage an Gott den Blick dafür, daß das Leiden zuerst und vor allem eine Frage an uns selbst stellt. Eine Anfrage an den Menschen Leiden im eigentlichen Sinn gibt es nur für den Menschen. Um leiden zu können, braucht es nicht nur einen leidensfähigen Leib oder ein
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... idensfähi ges Gemüt; es braucht vor allem ein geistiges Bewußtsein, das die Wider sprüchlichkeit des Leidens als solche wahrzunehmen vermag. Wer nicht weiß und wahrnimmt, daß das Schmerzhafte nicht sein soll, der verspürt zwar Schmerz, aber er leidet nicht eigentlich an diesem Schmerz. Jedes Leiden bringt etwas Fremdes, Ungehöriges in unser Dasein: eine Infektion, eine Verwundung, ein Versagen, ein Krebsgeschwür, ein Verlust, ein Unrecht, ein Unvermögen ... Was meinem Leben am fremdesten ist, der Tod -der eigene Tod und mehr noch der Tod meiner Lieben -, bringt mir das größte Leid. Alles in mir bäumt sich auf gegen diese Tatsache des Sterbens. Hier wie in jedem Leiden bin ich mit einer harten Tatsache konfrontiert, die allem zu widersprechen scheint, was ich als richtig und sinnvoll erkenne. An ihrer Tatsächlichkeit läßt sich jedoch nicht rütteln; es ist gerade dieser Widerspruch zwischen Tatsache und Sinn, der den tiefsten Grund des Leidens ausmacht. Darum leidet ein Mensch umso mehr, je menschlicher er ist: je weniger er bloß Tatsachen hinnimmt, je mehr er -bei sich und bei andern -einen tieferen Sinn sucht und spürt. Darin liegt eine erste Anfrage, die das Leiden an den Menschen stellt. Es fragt uns, wieweit wir überhaupt leidensfähig sind, und das heißt: wieweit wir menschlich sind. Sich gegen das Leiden einzuigeln, eine Hornhaut auf der Seele zu haben, ist kein menschlicher Vorzug. Ebensowenig ist es menschen würdig, vor dem Leiden zu fliehen, es nicht wahrhaben zu wollen. Was ein Mensch wert ist, wieweit er überhaupt Mensch ist, erkennt man daraus, wie weit er fähig ist zu leiden und mitzuleiden. Je größer ein Mensch ist, je aufgeschlossener er ist, je mehr seine Seele sein ganzes Sein durchwohnt, umso mehr Angriffsfläche wird er dem Leiden bieten.
doi:10.57975/ikaz.v17i6.4424
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