Die Welt, die in Europa eindringt : André Malraux, Romancier des intellektuellen Tatmenschen
François Bondy
1974
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November 1901 in Paris geboren, ist ein Held unserer Zeit und ein Verfasser weltberühmter Romane sowie grosser Werke der Kunstphilosophie und neuerdings von Erinnerungen ; er bestritt im letzten Jahr zehn volle Stunden des französischen Fernsehens in zwei Sendungsreihen. Malraux war Abenteurer und oppositioneller Journalist in Französisch Indochina zwischen 1923 und 1926, er war im spanischen Krieg 1936 der Schöpfer der internationalen Lufteskader < Espana >, war 1940 im Krieg an Panzerkämpfen beteiligt, wurde gefangen genommen, floh, führte 1944 den Resistancekampf in drei südfranzösischen Departements, wurde am 23. Juli wiederum gefangen, kam frei, weil er nicht erkannt wurde, schuf die Brigade Elsass-Lothringen, die Mülhausen befreite und an der Verteidigung Strassburgs teilnahm, wurde Ende 1945 Informationsminister, war nach de Gaulles Rücktritt Propagandachef von dessen Bewegung, war Ministerzumeist Kulturministerwährend der ganzen Epoche von de Gaulles Rückkehr zur Macht, und trat erst nach der Wahl Pompidous zum Präsidenten aus der Regierung aus. Wie mag dieser Mann heute als Gestalt, als Autor auf eine Generation wirken, die ihn nur als offizielle Persönhchkeit, als feierlichen Leichenredner, als Zeremonienmeister in Athen oder Brasilia erlebt hat, vielleicht als sprunghaften, autoritären Minister, der nach dem Mai 1968 den von ihm selber ernannten Jean-Louis Barrault als Direktor des Théâtre de France brüsk absetzte Diese Generation kennt Malraux heute besonders als Verfasser von Memoiren, die der Autor bizarrerweise «Antimemoiren» nennt. Malraux erscheint auf dem Hintergrund seiner Legende, seiner Werke, seiner Reden, seiner Handlungen als eine eindrucksvolle Persönlichkeit, ein Redner mit altmodischem Hang zu schwungvoll lyrischen, pathetischen Sätzen, untermischt mit kurz auffunkelnden abrupten Gedankenblitzen, die Jahrtausende der Geschichte und der Kunst plötzlich beleuchten. Alles hat er erlebt, war nahezu mit allen Grossen unserer Zeit vertraut; er lässt in seinen Erinnerungen einfliessen, was ihm Einstein, «die Geige unter dem Arm», gesagt hat, wie Stalin im Hause Maxim Gorkis über die Zukunft der europäischen Revolution zu ihm sprach, was Mao Tse Tung ihm über die Bauern berichtete, Nehru über die Seele Indiens. Präsident Kennedy hörte ihm ge-42 ANDRÉ MALRAUX raux' erschienen, die kein Aufsehen erregten. Einmal Grabreden -Oraisons funèbres -, der Titel ist von den berühmten Leichenreden Bossuets, des Hofpredigers bei Ludwig XIV. übernommen, und «Das schwarze Dreieck», Essays über Gestalten des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Choderlos de Laclos, Verfasser der «Gefährüchen Liebschaften», St. Just, der Jakobiner und der Maler Goyaals drei Einbrüche des Irrationalen ins Jahrhundert der Vernunft dargestellt. Dieser Band wurde auf Wunsch Malraux' nur in einer einmaügen kleinen Auflage gedruckt. Viel Unglück und Tod ist um Malraux, der selber das Leben oft aufs Spiel gesetzt hat und 1944 nur entkam, weil seine Papiere den Geburtsnamen George Malraux trugen. Zwei Brüder sind im Widerstand gegen die deutsche Besetzung ums Leben gekommender eine im Lager, der andere durch Erschiessung. Malraux heiratete die Witwe des Bruders Roland. Der Grossvater Malraux', ein verkrachter Reeder, sein Vater, ein verkrachter Bankier, haben sich das Leben genommen. Seine Lebensgefährtin Josette Clotys, mit der er zwei Söhne hatte, kam durch einen Bahnunfall 1944 ums Leben, und zuletzt sind die beiden Söhne gemeinsam bei einem Autounfall umgekommen. Die Tochter seines Hausmeisters wurde bei einem gegen Malraux gerichteten OAS-Attentat schwer im Gesicht verletzt. Die durch Jahrzehnte engste und vertrauteste Freundin Malraux', Louise de Vilmorin, die durch ihn zur Literatur kam, starb überraschend 1967. Um den Menschen, den Kämpfer, den Autor Malraux ist daher eine Atmosphäre von Gewitter, von Tragik, von Aussergewöhnlichkeit. Anders als die meisten berühmt gewordenen französischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts ist André Malraux ein Autodidakt, hat vermutlich kein Abitur gemacht; seine sprunghaften orientalistischen Sprach-und Archäologiestudien sind durch kein Diplom verbrieft. Sehr jung aber gab Malraux den hervorragendsten Geistern in Paris den Eindruck von stupendem Wissen auch auf den entlegensten Gebieten. André Gide, der mit Malraux vor allem in den dreissiger Jahren verkehrte, fand seine abrupten, zahllosen Ideenfunken anregend, aber auch anstrengend; er klagte in den Tagebüchern, dass er einer so artikulierten und schnellen Intelligenz gar nicht gewachsen sei, sich im Examen fühle. Man darf sich den jungen Literaten voll Abenteuerdrang nicht zu humorlos vorstellen. Die frühen Werke spielen in imaginären Königreichen und handeln von grotesken sowie grausigen Ereignissen. Le farfeludas Groteskkomische, Schwebendeist ein Wort, ein Begriff, den Malraux neu entdeckt hat. In seiner Phantasie war immer Raum auch für Spässe, für Farcen und eine grosse Begabung der Nachahmung, der Parodie. Wie merkwürdig, dass dem vierzigjährigen Albert Camus der literarische Nobelpreis zuerkannt wurde, zehn Jahre später dem sechzigjährigen Sartre,
doi:10.5169/seals-162959
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